Wendelin Schmidt-Dengler, Bruchlinien

Buch-CoverWas ein gelungener Staat sein will, braucht lebenslüsterne Bewohner, eine reale Verfassung und eine Literaturgeschichte. Alle drei lassen sich nicht am Reißbrett planen sondern nur mehr oder weniger aufwändig beschreiben.

Wendelin Schmidt-Dengler hat mit seinen Bruchlinien die österreichische Literaturgeschichte schlechthin geschrieben - frech, selbstbewusst und selbstkritisch.

Da der Autor mit seinen Vorlesungen das Publikum unter anderem auch mündlich zu erwecken versuchte, lesen sich seine Texte nicht nur als bewährte Literaturgeschichte sondern auch als Meta-Roman über alle besprochenen Texte, Biographien und österreichischen Umstände.

Allen die Formulierung "davon später" hält den Leser immer neugierig bei Laune, andererseits ist es eine sehr österreichische Formulierung, denn in Österreich wird immer alles später gemacht.

"Bruchlinien" meint daher etwas gesellschaftlich Tektonisches, es sind quasi Sollbruchstellen angesprochen, an denen es das politische Gefüge zerreißt und woraus interessante Dämpfe aufsteigen, andererseits sind durchaus auch mathematische Signaturen darunter zu verstehen, Bruchstriche, durch welche die Vergangenheit mit der Gegenwart gebrochen wird.

Wendelin Schmidt-Dengler verliert bei seinem Unterfangen nie eine gewisse Systematik aus dem Auge, es geht wie bei allen Literaturbewertungen um die Epochisierung, die Frage nach der Textauswahl und die Methode der Darstellung.

Die Zeiteinteilung, steht sie einmal geschrieben, ist völlig logisch: 1945-1966, das Aufrappeln des Staates aus dem Schutt und die Restauration der Literatur; 1970-1980, "die Literatur nach dem Tod der Literatur", 1980-1990, die Literatur nach dem Untergang der Insel der Seligen.

In punkto Textauswahl verwendet der Literaturwissenschaftler die von Ranking-Listen wohl bewährte Rezeptionsform: pro Jahr ein markantes Buch. Und was die Methode betrifft, so betont Wendelin Schmidt-Dengler immer wieder, dass nichts fix ist, dass es zu wenig ist, wenn man nur den Stoff betrachtet, und dass es in der Rezeption um mehr geht als nur um eine große Rezension einer Epoche.

Der Autor stellt so etwas wie einen Kanon von Grundbüchern vor, spickt sie mit persönlichen Leseerfahrungen und zitiert jeweils andere Kommentare. So tauchen die Namen Handke, Bernhard, Bachmann, Jandl, Jelinek wie Bundesregierungen auf und werden dementsprechend gewürdigt. Dabei werden andere Standpunkte nie unflätig behandelt sondern elegant ausgehebelt. Hauptvorwurf ist immer, dass beinahe jede Darstellung zu kurz greift, denn ein Text ist eben immer mehr als die Summe seiner Beschreibungen. Dabei nimmt sich der Autor ironisch durchaus selbst auf die Schaufel.

Bruchlinien 1995 erstmals publiziert, ist ein Meilenstein in der Österreichischen Geschichts- und Literaturgeschichtsschreibung. Da die einzelnen Thesen für die Zukunft offen gehalten werden, kann man dieses Grundbuch der Literaturanalyse wohl noch einige Jahre, österreichisch formuliert Jahrzehnte, mit Genuss und hohem Grad an Nützlichkeit lesen.

Wendelin Schmidt-Dengler, Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1945 bis 1990. [EA 1995] 3. Korr. Aufl.
St. Pölten: Residenz 2010. 559 Seiten. EUR 34,90. ISBN 978-3-7017-3179-4.

 

Weiterführende Links:
Residenz-Verlag: Wendelin Schmidt-Dengler, Bruchlinien
Wikipedia: Wendelin Schmidt-Dengler

 

Helmuth Schönauer, 20-03-2010

Bibliographie

AutorIn

Wendelin Schmidt-Dengler

Buchtitel

Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1945 bis 1990

Erscheinungsort

St. Pölten

Erscheinungsjahr

2010

Verlag

Residenz

Seitenzahl

559

Preis in EUR

34,90

ISBN

978-3-7017-3179-4

Kurzbiographie AutorIn

Wendelin Schmidt-Dengler, geb. 1942, Germanist, Leiter des Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek, starb 2008.