Andrej Kurkow, Der Milchmann in der Nacht
Grob gesprochen ist ja jede Geschichte eine Überlebensgeschichte. ob sich nun der Held vor Langeweile durch den Tag schleppt oder die Heldin vor Arbeit darin umkommt - es geht letztlich darum, den einzelnen Tag zu überleben.
Verschärft werden diese Überlebensstrategien naturgemäß in einem Land, das das pure Überleben als Programm ausgegeben hat. Literarische Figuren in einem ukrainischen Roman haben wie die sogenannten echten Menschen in der Ukraine der Gegenwart nur eines im Sinn: Das Ende des Tages lebend zu erleben.
Andrej Kurkow schickt seine Figuren im Roman Der Milchmann in der Nacht wieder einmal in den abstrusen Alltag. Manche Figuren haben beiläufig mit einander zu tun, manche verfolgen einander, manche lieben einander, es geschieht alles mit der Zwanglosigkeit der Absurdität.
Da macht sich eine junge Mutter jeden Tag morgens in der Dunkelheit auf den Weg in die Hauptstadt Kiew, um sich in einer diffusen Gasse in einem Institut die Milch abpumpen zu lassen, die offensichtlich einem Politiker als Junghaltemittel dient. Der Säugling zu Hause wird dafür mit Kunstmilch am Leben gehalten.
Ein Apotheker wird umgebracht, weil er mit Anti-Aging-Medikamenten experimentiert.
Und ein Security-Mann lässt am Flughafen einen geheimnisvollen Koffer mitgehen, in dem Wunderampullen eingelagert sind. Diese haben die seltsame Wirkung, dass man davon hell wach und der Wahrheit verpflichtet wird, beides Eigenschaften, die einen Politiker umbringen.
In dieser düsteren Konstellation beginnen die einen zu schlafwandeln, andere werden beobachtet, dritte dringen in die Garage ein, wo es zu einem Kampf auf Leben und Tod kommt, andere wiederum heiraten aus dem Bauch heraus, weil gerade günstig die passenden Dokumente her gehen.
Neben diesen größeren Überlebensthemen gibt es aber auch jede Menge kleiner Sticheleien und Kränkungen. Der Hund vom Nachbarn wird dann doch umgebracht und verscharrt, weil er sich einfach nicht an die Grundstücksgrenze halten mag, eine abgehauene Katze wird durch eine ähnliche ausgetauscht, damit die Besitzerin nicht vom Katzenverlust im Gram aufgefressen wird, ein Priester macht günstig Garagen-Segnungen, wenn diese verflucht sein sollten.
"Orthodoxer Geistlicher führt günstig nach christlichem Ritus die Segnung von Haus, Wohnung, Datscha, Auto, Boot, Jacht durch. Tel. 8-044-416 86 04." (407)
Mittendrin treffen sich Security-Spezialisten, um einen Coup zu landen, Abgeordnete verkaufen ihre Mandate, unbedarfte Personen spielen mit dem Gedanken, doch noch in die Politik zu wechseln, Findelkinder werden auf die Schnelle zu Adoption freigegeben und mit Schwarzpapieren ausgestattet.
"Ruhig!", kommandierte der Mann im Fliegeranzug. "Ich befehle, sich nicht zu fürchten! Vor drei Jahren wären sie jetzt schon nicht mehr auf der Welt! Also bedanken Sie sich trotzdem bei der orangenen Revolution. Wir haben jetzt Demokratie: Alles nur mit Einwilligung des Patienten!" (472)
Andrej Kurkows Roman zeigt ein Sittenbild eines aufgewühlten Landes, das seine Bewohner Tag und Nacht auf Trab hält. Selbst der Milchmann erscheint in so einer Gesellschaft nur bei Nacht. - Skurril.
Andrej Kurkow, Der Milchmann in der Nacht. Roman. A. d. Russ. von Sabine Grebing. [Orig.: Nocnoj Molocnik, Charkow 2009].
Zürich: Diogenes 2009. 537 Seiten. EUR 22,90. ISBN 978-3-257-06727-9.
Weiterführende Links:
Wikipedia: Andrej Kurkow
Diogenes-Verlag: Andrej Kurkow, Der Milchmann in der Nacht