Ljubko Deresch, Intent!
Das größte Abenteuer ist sicher das allmähliche Hineinwachsen in die eigene Person.
In Ljubko Dereschs Roman Intent! wächst Petro Pjatotschkin nicht nur in sich selbst hinein sondern über sich hinaus.
In der mickrigen Karpatenstadt Midni Buky, die wir vielleicht aus dem Eidechsen-Roman kennen, entdeckt der pubertierende Schüler, dass er keine Angst mehr zu haben braucht, denn er weiß alles. Mit seinem sagenhaften Gedächtnis kann er den Text einer ganzen Seite überfliegen und quasi im Hirn einscannen. So wird jede Prüfung zu einem Kinderspiel, denn die Lehrer können nichts prüfen, was der Wunder-Schüler nicht schon im Kopf hätte.
Freilich hat Petro auch eine Art gesunde Lebensintelligenz und die besagt, dass man seine Intelligenz nie zeigen darf, schon gar nicht in der Provinz. Also behält er sein üppiges Wissen für sich und verkriecht sich im Zweifelsfalle in sich selbst.
Ein großes Problem stellt kurz in und um die Pubertät die Sexualität dar. Im Ort treffen sich immer ausgehungerte Jugendliche und erzählen einander völlig erregt, wer mit wem und wo schon etwas in dieser Hinsicht gemacht hat. Aber dann schleicht sich auch die Öde ein, Sex allein dürfte es doch nicht sein.
Wir hatten heftiges Petting mit Ejakulation. Das war auf einer Bank im Park hinter dem Klub. Ich kam und spürte, wie ich leer wurde. Ich hatte einen ganzen Abend für einen kurzen Moment dumpfen Genusses geopfert. (44)
So halbwegs erwachsen geworden und mit übersinnlichen Fähigkeiten ausgestattet, schlängelt sich der Held im Sinne eines überirdischen Bildungsromans durch die üblichen Stationen des Lebens.
Zuerst einmal wird mit Herkunft und Geschichte abgerechnet, indem Großmutter ihre Lebensgeschichte und das verrückte Zusammenleben mit Großvater erzählt.
Oma ging in sich. Dann fragte sie plötzlich, was ich denn glaube, was nach dem Tod sei. Nach kurzem Nachdenken sagte ich, was ich dachte: Ich glaube, nach dem Tod kommt der Tod. (95)
Dann taucht die Gestalt des Kosmonauten Gagarin überplastisch auf und entführt Petro ins Weltall oder zumindest aus den gängigen Ballaststoffen Raum und Zeit.
Und so etwas wie der Jahrhundert-Kick passiert dann in Lemberg im Cafe Kosmos, in diesem Kombi-Laden aus Erotik, Buchhandel und Getränk taucht eine Künstlerin aus Montreal auf und hat das entscheidende Bild gemalt. Es heißt Intent! und kann durchaus als Lebensprogramm gelten. Alle Wörter wie Absicht, Vorsatz, Intention, Vorhaben oder Vorbedacht können als Leitbegriffe für den Helden herhalten. Und wer weiß, vielleicht liegt in diesen Begriffen der Schlüssel zur genialen Lebenskunst einer ganzen Generation.
Intent! ist ein kühner, aufmüpfiger und kluger Roman über das intensive Leben eines hellwachen Helden in einer emotional ziemlich abgedämpften Zeit. Nicht nur im Untertitel "Spiegel des Todes" springt der Roman ins Jenseits, durch heftige Lebenslust scheint das Jenseits bereits in der ukrainischen Provinz realisierbar zu sein!
Ljubko Deresch, Intent! Oder die Spiegel des Todes. Roman. A. d. Ukrain. von Maria Weissenböck. [Orig.: Namir!, Kiew 2006].
Frankfurt/M: Suhrkamp 2006. ( = es 2480). 316 Seiten. EUR 12,-. ISBN 978-3-518-12536-6.