Thomas Pynchon, Natürliche Mängel

Buch-CoverWenn eine Epoche kriminell strukturiert ist, wird quasi von selbst alles, was sich darin abspielt, zu einem Krimi.

Thomas Pynchon arbeitet Amerika mit hyper-realistischen Romanen auf, die jüngste historische Fiktion spielt so um 1970 in Los Angeles. Der deutsche Buchtitel sagt es ohnehin recht treffend, das psychodelische Wundersystem USA hat um diese Zeit ziemliche Mängel, die aber irgendwie als natürlich und vom System gewollt empfunden werden.

Die Handlung ist bei einem echten Pynchon-Roman kein übliches Agieren der Figuren sondern eher ein Abstecken des erzählerischen Claims. Und was sich innerhalb dieses Feldes abspielt, ist meist irreal und nicht von dieser Welt.

An der Westküste der USA sind um 1970 alle high, es wird gesurft, gespeedet und gevögelt, was die jeweiligen dafür notwendigen Utensilien hergeben. Hauptfigur ist ein Privatdetektiv namens Doc, der im uniformierten Cop Bigfoot einen kongenialen Gegenspieler mit Auswüchsen zu einer skurrilen Feindschaft gegenübergestellt hat.

Doc und Cop symbolisieren verschiedene Gewalten des Staates, aber im Krisenfall agieren sie auf der gleichen Ebene, nämlich der psychodelischen. Einen sogenannten Fall bringt der Baulöwe und Finanzmogul Wolfmann ins Rollen, indem er verschwindet. Kann sein, dass er entführt worden ist, kann sein, dass er ermordet worden ist oder bloß in eine andere Daseinsform gewechselt hat.

Alle Figuren haben indirekt mit diesem Wolfmann zu tun, der offensichtlich der wahre Drahtzieher für das kalifornische Lebensgefühl ist, bei dem es letztlich nur darum geht, alle Kurven des Alltags mit und ohne Schwerkraft zu bewältigen, "mit über hundertsechzig im Nebel unbeschadet durch all die simpel konstruierten Kurven zu kommen" (10)

Der Staat, voll-idiotisch regiert vom Gouverneur Ronald Reagan hat sich zurückgezogen, indem er beispielsweise die Klapsmühlen privatisiert hat (223), andererseits reagiert er auf den Hippie-Kult Marke Charles Manson mit sinnlosen Verkehrskontrollen der Sorte POKEKAN (264), wonach alle "potentiellen Keimzellen kultischer Aktivitäten" angehalten und protokolliert werden müssen.

Die Akteure reagieren mit Vollnarkose, indem sie beispielsweise wie Loser Autofahren und um einen Verkehrsunfall betteln oder gleich direkt in den angetörnten Ton der transzendenten Kommunikation fallen.

Ja, diesmal, scheint es, hast du es endlich geschafft, in etwas reinzuschlittern, was so real und tief ist, dass du deinen nutzlosen Hippiearsch da nicht mehr raushalten kannst. (34)

Wenn alles den pinkfarbenen Bach hinuntergeht, gibt es so etwas wie klassische Dramaturgie, so ist offensichtlich die ehemalige Geliebte von Doc später für schnelle Nummern die Frau von Wolfmann geworden.

Als Leser surft man fassungslos durch dieses sonnige Kalifornien, ruft sich Vietnam-Bilder und die entsprechenden Hippie-Songs in Erinnerung und denkt sich, dass man in dieses verrückte Reich nur in der Lektüre hin will. Manchmal freilich beschleicht einen das Gefühl, dass Pynchon vielleicht über die aktuelle Gegenwart schreibt, freilich schlitzohrig getarnt mit Versatzstücken aus der Hippie-mumifizierten Vergangenheit.

Thomas Pynchon, Natürliche Mängel. Roman. A. d. Amerikan. von Nikolaus Stingl. [Orig.: Inherent Vice, N.Y.2009].
Reinbek: Rowohlt 2010. 480 Seiten. EUR 25,70. ISBN 978-3-498-05310-9.

 

Helmuth Schönauer, 15-11-2010

Bibliographie

AutorIn

Thomas Pynchon

Buchtitel

Natürliche Mängel

Erscheinungsort

Reinbek

Erscheinungsjahr

2010

Verlag

Rowohlt

Seitenzahl

480

Preis in EUR

25,70

ISBN

978-3-498-05310-9

Kurzbiographie AutorIn

Thomas Pynchon, geb. 1937 auf Long Island, lebt inkognito und Presse-resistent in Manhattan.

Themenbereiche