Natan Dubowizki, Nahe Null

Buch-Cover

Vielleicht wird "Gangsta Fiction" der Inbegriff für eine neue Literaturgattung, worin es darum geht, die politisch aus den Fugen geratene Welt mit trans-fiktionalen Mitteln darzustellen.

Natan Dubowizki beschreibt nichts anderes, als diesen ökonomisch getarnten Schleim, der sich im Postkommunismus an ein paar Dynastien festgemacht hat und der mittlerweile das ganze Land, wenn nicht gar den ganzen postsowjetischen Kontinent überzieht.

In einem normalen Land würde ein Bürgerkrieg ausbrechen, aber bei uns gibt es keine Bürger, und ein Lakaienkrieg ist - na ja nicht schlimmer, aber irgendwie hässlicher, niederer als ein Bürgerkrieg. Die Lakaien werden um den Plunder der Herren streiten [...]. (57)

Hauptfigur dieses desaströsen Zustandsberichtes ist der Verleger Jegor, der mit dubiosen Copyright-Geschäften ein Vermögen gemacht hat. Wer mit Fiktionen handelt, handelt eigentlich mit dem Substrat jeglicher Macht, denn selbst das Geld ist letztlich nichts anderes als Fiktion, wiewohl es in der ewigen Gangster-Philosophie heißt:

Gold wird aus Blei gemacht. (143)

Tatsächlich zieht sich eine Blutspur aus Bleikugeln über das Land, denn die Fiktion kippt immer wieder in brutale Gewalt. So ist bei einem Hinrichtungsvideo bis zum Schluss nicht klar, ob es sich um eine Scheinhinrichtung oder eine authentische Exekution handelt. Für den Handel mit Fiktionen ist das belanglos, denn auch hier ist der Markt längst aufgeteilt in legale, fast legale und weder-noch Geschäfte.

Am Beispiel der biederen Buchproduktion heißt das, Lehrbücher sind fast legal, der schwarze Buchmarkt ist illegal und sogenannte literarische Fälschungen und Streiche sind verwaltungstechnisch gesehen weder legal noch illegal. (59)

Held Jegor macht alle Höhen und Tiefen des modernen Gangster-Lebens durch, sexuell leidet er an Monstrosität und Auszehrung gleichzeitig, seine Geliebte ist eine Gummipuppe ohne Gummi, seine Tochter ein psychisch verwahrlostes Mitbringsel aus einer fernen Zeit. Politisch driften die Geschäfte in den Kaukasus ab und das bedeutet Chaos pur. Zwischendurch wird gefoltert, massakriert und gefeiert, was das Zeug enthemmter Anarchisten hält.

Aber so wie es im Roman ein Intro gibt, gibt es ein elegantes Outro, worin alles als Fiktion ausgegeben wird. Und auch diese Vorstellung von der Fiktion ist meta-fiktional angelegt. Das Geschäft mit Fälschungen und Streichen bezieht sich auch auf den Autor, der unter einem Pseudonym auftritt und gleichzeitig die enttarnte Wirklichkeit eines tschetschenischen Kreml-Experten übernommen hat. - Brutal, grandios, pervers und unterhaltsam! Als Leser ist man hingerissen und deprimiert zugleich, und man wird ungewollt Mitglied dieser "Gangsta Fiction", die sich längst schon in unseren Gedankengängen eingenistet hat.

Natan Dubowizki, Nahe Null. [gangsta fiction]. A. d. Russ. von Ganna-Maria Braungardt. [Orig.: Okolonolya, Moskau 2009].
Berlin: Berlin Verlag 2010. 220 Seiten. EUR 22,-. ISBN 978-3-8270-0947-0.

 

Helmuth Schönauer, 20-12-2010

Bibliographie

AutorIn

Natan Dubowizki

Buchtitel

Nahe Null

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2010

Verlag

Berlin Verlag

Seitenzahl

220

Preis in EUR

22,00

ISBN

978-3-8270-0947-0

Kurzbiographie AutorIn

Natan Dubowizki (d.i. Wladislaw Jurjewitsch Surkow), geb. 1964 in Schali / Tschetschenien, ist Geschäftsmann und Kreml-Chefideologe.

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