Vladislav Todorov, Die Motte

Buch-Cover

Brutale Vorgänge lassen sich oft nur mit makabren Erzählformen beschreiben. So gilt der Roman noir mit seinen dunklen Figuren und seinem düsteren Milieu als passable Kunstform, um so einem Unding wie dem Stalinismus irgendwie gerecht zu werden.

Vladislav Todorov erzählt eine Kriminalgeschichte, die aber durchaus politisch verläuft. Im stalinistischen Sofia der Nachkriegszeit raubt ein jugendliches Trio einen Juwelier aus, der dabei zu Tode kommt. Der Ich-Erzähler Motte geht ins Gefängnis, weil er seine Geliebte schützen will, der wahre Täter wird politischer Polizist und wartet, bis Motte wieder aus dem Gefängnis kommt, um ihm das Versteck des verschwundenen Diamanten herauszupressen.

Motte berichtet von wahnsinnigen Typen im Gefängnis und mit welchen Tricks er überlebt.

Den Spitznamen Motte bekam ich schon als Kind. Ich war spindeldürr, aber zäh und gelenkig, und versteckte mich gern in Abstellkammern, um andere zu erschrecken. Und dabei ist es geblieben - Motte. Denn wenn du mal einen Spitznamen bekommst, bleibt er wie ein Klette an dir hängen. (37)

Tatsächlich führen alle Protagonisten einen  Spitznamen, das geht vielleicht auf den Usus der Kommunistischen Führer zurück, die sich ja auch Lenin, Trotzki oder Stalin genannt haben.
Als Motte in den frühen sechziger Jahren nach 25 Jahren Haft entlassen wird, geht es gleich rund. Sein ehemaliger Komplize wartet mit entsprechendem Polizeiapparat auf ihn, er wird gleich gefoltert, dass dagegen das Gefängnis fast eine Erholungsfarm war. Und zu guter Letzt vergiftet man ihn mit Iridium, gegen das es offensichtlich kein Gegengift gibt.

Ab jetzt werden immer wieder aus Lautsprechern oder über Radio Zeitangaben durchgegeben, denn Motte hat nicht mehr lange zu leben. In dieser Zeit bis zum Erzähl-Finale rollt er noch einmal seine Geschichte auf, alles ist letztlich völlig anders, als er es sich ausgemalt hat. Wie überhaupt die Welt die Eigenschaft hat, völlig anders zu sein, als wir sie wahr haben wollen.

Am Schluss schreibt Motte in Erwartung seines Todes seine gesamte Geschichte auf, sinnigerweise in der Wärmestube der Totengräber. Von dort schreibt er auch das Eingangsmotto von Stalin ab:

Der Tod löst alle Probleme - kein Mensch, kein Problem. Stalin. (5)

Vladislav Todorov hat auf der Oberfläche einen süffisanten, spritzigen schwarzen Krimi geschrieben, der sich in der Tiefenstruktur als beinharte, blutige, groteske Beschreibung der jüngeren bulgarischen Zeitgeschichte erweist. Zum Lachen und Nicht-Lachen zugleich!

Vladislav Todorov, Die Motte. Roman noir. .A. d. Bulgar. von Roumen M. Evert [Orig.: Plovdiv 2006]
Berlin: edition Balkan Dittrich 2011, 190 Seiten, 14,80 €, ISBN 978-3-937717-54-8

 

Helmuth Schönauer, 09-04-2011

Bibliographie

AutorIn

Vladislav Todorov

Buchtitel

Die Motte

Originaltitel

Plovdiv

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2011

Verlag

edition Balkan Dittrich

Übersetzung

Roumen M. Evert

Seitenzahl

190

Preis in EUR

14,80

ISBN

978-3-937717-54-8

Kurzbiographie AutorIn

Vladislav Todorov, geb. 1956 in Sofia, unterrichtet an der University of Pennsylvania.

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