Will Gatti, Diebe!
Will Gattis Buch "Diebe!" liest sich wie eine moderne Ausgabe von Charles Dickens Oliver Twist. Während uns bei Oliver Twist die Feuchtigkeit und Kälte des englischen Nebels frieren lässt, schlägt uns in "Diebe!" die Hitze einer südamerikanischen Stadt wie ein Glutofen entgegen.
"Die Stadt ist ein Glutofen. In dieser Stadt ist es immer glühend heiß. Der Fluss ist zu einem Rinnsal aus braunem Wasser ausgetrocknet." (5) heißt es gleich zu Beginn des Romans und versetzt damit den Leser unmittelbar in die schmutzige, lärmende Welt der Slums der sudamerikanischen Millionenmetropolen, in der unzählige elternlose Kinder um ihr nacktes Überleben kämpfen.
Demi und Baz leben im Barrio einer südamerikanischen Großstadt, wo sie gemeinsam mit anderen Kindern in einer Bretterbude mit Dach bei Fay leben, die für die Kinder so etwas wie eine große Schwester ist. Die Kinder müssen für sie als Taschendiebe arbeiten und erhalten dafür ein Dach über dem Kopf, Essen und so etwas wie eine Familie. Die Spielregeln sind hart und gleich zu Beginn des Romans wird klargestellt: wer die Spielregeln bricht, wird weggeben und muss in den Müllbergen schuften.
Baz und Demi haben immer geglaubt, Fays Geschäfte mit Senor Moro würden sich ausschließlich um Geld drehen. Noch nie war die Rede davon, dass einer seiner Leute vorbeikommt und von Fay verlangt, ein Kind herzugeben. (39)
Baz ist ein Mädchen von zwölf Jahren, das von Demi gefunden wurde, als sie noch ein kleines Kind war. Die beiden arbeiten bei ihren Taschendiebstählen eng zusammen und sind ein ausgekochtes Team, das alle Tricks und Schlichen des Geschäfts von klein auf gelernt hat.
Eines Tages gelingt den beiden ein großer Coup. Vor einem Schmuckgeschäft entwenden sie einer elegant gekleideten Frau ein Päckchen mit einem überaus wertvollen Brillantring. Was sie nicht wissen können: bei der Frau handelt es sich um die Frau des Polizei-Captains der Stadt und das erhoffte Glück beginnt zum Alptraum zu werden
Gattis Geschichte ist nicht nur eine überaus spannend erzählte Kriminalgeschichte rund um junge Taschendiebe, sondern auch eine bedrückende Schilderung der sozialen und rechtlosen Verhältnisse der Gesellschaft in den Barrios der Großstädte, den Slums der Ausgestoßenen, wo ein Kinderleben nichts wert ist.
Die Parallelen zwischen Gattis "Diebe!' und Dickens "Oliver Twist' sind unübersehbar. Genau wie Oliver wissen auch die jungen Straßendiebe Demi und Baz nichts über ihre Herkunft und auch bei der Figur der beiden Hehler, für welche die Kinder arbeiten und die für die Kinder so etwas wie ein Elternersatz und eine Familie sind, ähneln sich nicht nur die Namen: Fagin und Fay.
Gattis Geschichte der beiden Taschendiebe Demi und Baz ist eine überaus einfühlsame Schilderung des Lebens von Straßenkindern in den Slums einer südamerikanischen Großstadt, deren Schicksal tief unter die Haut geht. Lebendig und überaus realistisch werden die einzelnen Figuren charakterisiert. Da wird nichts beschönigt sondern eine Welt gezeichnet, in der die Gegensätze zwischen Arm und Reich zum Himmel schreien. Es sind aber vor allem die leisen Momente der Geschichte, in der die vereinsamten, verarmten und verlassenen Kinder Augenblicke des Mitgefühls für das Schicksal der Anderen zeigen, die dem Buch seine tiefe emotionale Kraft verleihen.
Diebe! ist ein Roman, der zutiefst bewegt und nicht kalt lässt. Nur die Lebendigkeit und Lebensfreude der geschilderten Figuren lässt die Leser die unerträglichen sozialen Verhältnisse, in denen die Kinder leben müssen, aushalten. Diebe! ist ein beunruhigendes und hoffnungsvolles Buch zugleich, vor allem aber ist es ein hervorragend geschriebener Roman, der allen Leserinnen und Lesern nur weiter empfohlen werden kann.
Will Gatti, Diebe! Übers. Karsten Singelmann, ab 13 Jahren
Landsberg: Verlag Beltz & Gelberg 2010, 416 Seiten, 17,50 EUR, ISBN 978-3-407-81058-8
Weiterführende Links:
Verlag Beltz & Gelberg: Will Gatti, Diebe
Homepage: Will Gatti (engl.)
Andreas Markt-Huter, 20-05-2010