Inge Meyer-Dietrich, Bin noch unterwegs
Inge Meyer-Dietrichs Jugendroman 'Bin noch unterwegs' schildert das Leben einer gut bürgerlichen "harmonischen' Familie mit brüchiger Fassade. Laura, die 16-jährige Tochter des Hauses, fühlt sich mit ihren Sorgen allein gelassen und flieht, ohne zu wissen, wohin.
Sie ignoriert die verzweifelten Anrufe ihrer Eltern, registriert aber mit Genugtuung, dass sie ihnen doch etwas bedeutet.
Sie merken nicht, dass ich aufstehe und gehe. Nur die Kerzen flackern wie ein kurzes Winken. Das ist das Bild, das sich mir in die Netzhaut brennt: Mein Vater, der heftig gestikuliert. Meine Mutter, die nach Luft schnappt für den nächsten bösen Satz. Der Hass in ihren und seinen Augen. Feinde, die sich am Tisch gegenübersitzen. Ein üppig beladener Esstisch mit Schüsseln, aus denen es noch dampft. Ich habe gekocht. Ich habe den Tisch gedeckt. Es ist mein verdammter Geburtstag. Ganz langsam zerknülle ich die rote Serviette mit dem orientalischen Muster in meiner Hand. Die Fingernägel bohren sich ins Fleisch. Fest. Ganz fest.
Mit diesem Knalleffekt beginnt Inge Meyer-Dietrich ihren Roman. Zufällige Endstation ivon Lauras Flucht ist eine Wohngemeinschaft in einem modernen Hochhaus in Essen, deren fünftes Mitglied sie wird. Allen Bewohnern - Aki, Stefan, Paul, Manu sind die anderen vier - ist etwas gemeinsam: Ihre familiäre Situation hat tiefe seelische Schrammen hinterlassen.
Zu den Schatten gesellt sich auch Erhellendes: Lauras erste Liebe mit dem geheimnisvollen Aki. Die Zeit vertreibt sich die Schulabbrecherin mit ihrem größten Hobby, dem Malen, in einem kleinen Park in der Innenstadt. In diesem "grünen Zimmer', wie Laura den Ort nennt, fühlt sie sich unendlich wohl. Einer Nachbarin dient sie hin und wieder als Kindermädchen und beweist dabei großes Feingefühl.
Von Manu, der Mitbewohnerin angestachelt, lässt sich Laura zu einem Handtaschenraub hinreißen. Die Beute ist mager: Wenig Geld, aber ein Manuskript zu einem Buch, dessen Aussagen Laura nicht mehr loslassen, sind sie doch ein Spiegelbild ihrer eigenen Situation. Sie werden zum Wendepunkt in ihrem Leben. Ein Beispiel: NUR IM AUFBRUCH LIEGT DIE MÖGLICHKEIT DES ÜBERLEBENS.
Mühsam gelingt es Laura, Kontakt zu Sophie Hansen, der bestohlenen Schriftstellerin, aufzunehmen. Langsam entwickeln sich Freundschaft und tiefes Verständnis zwischen den beiden.
Die Schleier um den geheimnisvollen Aki lichten sich, als dessen Schwester plötzlich auftaucht. Nun wird klar, dass Aki Sohn reicher Eltern und Mitbesitzer der noblen Wohnung ist, in der sich die Jugendlichen niedergelassen haben. Die WG löst sich auf, Laura und Manu werden von der Schriftstellerin vorübergehend beherbergt. Sie ist es auch, die Laura animiert, wieder Kontakt zu den mittlerweile geschiedenen Eltern aufzunehmen. Schließlich zieht Laura zu ihrer Mutter. Auch mit Aki ist wieder alles im Lot.
THEMEN: Krisengebiet Familie, Erwachsenwerden, Loslösen, Erlangen von Selbständigkeit, erste Liebe, Freundschaft.
Was mich besonders angesprochen hat: Es ist ein MUTMACHER-BUCH.
- Dass doch noch alles gut werden kann.
- Dass es immer wieder weiter geht.
- Dass es für alles eine Lösung gibt.
- Dass man anderen eine Chance zur Besserung geben soll.
- Dass selbst ausweglos scheinende Situationen etwas Positives in sich bergen.
SPRACHE: Flott und ansprechend, leicht lesbar, durchaus empfehlenswert für die Schulbibliothek.
Inge Meyer-Dietrich, Bin noch unterwegs. Ab 13 Jahren
Ravensburg: Ravensburger Buchverlag 2008, 224 Seiten, 13,40 EUR, ISBN 978-3-473-35282-1
Maria Hanser, 07-09-2010