Judy Blundell, Die Lügen, die wir erzählten

"Es zieht die Lüge nach unten, wie die Wahrheit nach oben reißt mit tausend Schwingen, die ihr wachsen', schrieb einst der deutsche Dramatiker Emil Gött.

Judy Blundells Jugendroman Die Lügen, die wir erzählten kreist um die zentralen Themen Wahrheit und Lüge, Recht und Unrecht, woran die Protagonisten des Romans, bei ihrem Versuch höher hinauf zu fliegen, als aus eigener Kraft möglich, letzten Endes scheitern.

Wir erleben die Ereignisse, die sich im Spätsommer 1947 ereignen, aus der Sicht der 15-jährigen Evelyn Spooner, genannt Evie, ein junges Mädchen, das sich immer im Schatten ihrer wunderschönen Mutter fühlt. Ihre Mutter Beverly hatte bereits mit siebzehn Jahren geheiratet, als sie mit Evie schwanger geworden war. Evies Vater hatte die beiden aber bereits nach sechs Monaten verlassen, um sich nach Kalifornien aus dem Staub zu machen.

Beverly heiratet später Joe Sponner, teils aus Liebe, teils aus finanziellen Gründen, aber auch um ihrer gesellschaftlichen Isolierung als alleinerziehende Mutter zu entkommen und Evie einen Vater zu bieten. Bei Kriegsausbruch zieht die Familie zu Joes Mutter Gladys, die Evie Grandma Glad nennen soll. Beverly und Gladys können sich gegenseitig nicht ausstehen und geraten immer wieder in Streit.

Als Joe Spooner aus dem Krieg in die Vereinigten Staaten zurück kehrt, wird in den Medien das Bild vom tapferen Kriegshelden gezeichnet, der für die Freiheit der Welt gekämpft hat und dem es problemlos gelingt, sein altes Leben wieder aufnehmen.

Hinter dieser "heile-Welt-Fassade" blicken jedoch immer wieder die Gräuel des Krieges und selbst begangenes Unrecht hervor, die sich nicht auf Dauer hinter Schminke, Kleidern und Konsum verstecken lassen, während alle versuchen dem vermeintlichen amerikanischen Traum nach Wohlstand und Familienglück nachzujagen.

Es war der Krieg. Man konnte ihn nicht danach fragen. Man wollte ihn nicht daran erinnern. Was eine Frau und eine Tochter zu bieten hatten, war ein glückliches Heim. Das war unsere Aufgabe. Jedenfalls sagten das die Zeitschriften. Ich schnitt Artikel für Mom aus und legte sie ihr auf den Stuhl. Rezepte und die neueste Mode, alles, was eine Frau für ihren Mann attraktiver machen konnte. (22)

Zu Hause erhält Joe immer wieder Anrufe von einem vermeintlich Unbekannten und wie aus heiterem Himmel beschließt Joe mit seiner Familie Urlaub in Palm Beach in Florida zu machen. In Palm Beach lernen die Spooners im Hotel das jüdische Ehepaar Tom und Arlene Grayson kennen, mit denen Joe versucht ein Geschäft einzufädeln. Am Abend lernt Evie, nach einem für sie zunächst langweilig verlaufenden Ball, den 23-jährigen Peter Coleridge kennen, in den sie sich auf den ersten Blick verliebt.

Peter ist für Joe jedoch kein Unbekannter, haben doch beide im Krieg in derselben Einheit gedient. Evie ahnt ein Geheimnis, als sie bemerkt, mit welcher Abneigung Joe seinem ehemaligen Kriegskameraden begegnet. Aber auch Peters Verhältnis zu ihrer Mutter Beverly wirft bei ihr Fragen auf.

Die Lügen, die wir erzählten ist die Geschichte eines Mädchens auf ihrem Weg zu einer jungen Frau, die Geschichte ihrer ersten Liebeserfahrung und ihr mühsamer Versuch, aus dem Schatten ihrer übermächtigen Mutter zu treten, um den eigenen Platz im Leben zu finden. Es ist aber auch die Geschichte ihrer Suche nach Wahrhaftigkeit, bei der sie immer mehr erkennen muss, dass alle Menschen, die sie umgeben, ihre Geheimnisse zu verbergen haben. Nichts ist, was es zu sein scheint und immer mehr bricht das Lügengebäude der glücklichen Familie und des tapferen Soldaten in sich zusammen

Geschickt gelingt es Judy Blundell die amerikanische Gesellschaft der Nachkriegszeit mit ihrem amerikanischen Traum von Familie und Wohlstand zum Leben zu erwecken und in Frage zu stellen. Als Erkenntnis bleibt, dass sich niemand vor seiner individuellen Verantwortung drücken und sein Handeln hinter Lügen verbergen kann. Am Ende werden alle von der Wahrheit wie von einem Hurrikan eingeholt.

Die Lügen, die wir erzählten ist kein leicht zu lesendes Buch, aber ein Buch mit viel Einfühlungsvermögen und Sprachgefühl, in dessen Geheimnisse die Leserinnen und Leser zunehmend tiefer eintauchen. Ein überaus spannend erzähltes Buch, das von Mirjam Pressler meisterhaft ins Deutsche übersetzt worden ist und sowohl jugendlichen Leserinnen und Lesern als auch Erwachsenen gerne weiterempfohlen werden kann.

Judy Blundell, Die Lügen, die wir erzählten. Übers. v. Mirjam Pressler, ab 14 Jahren
Ravensburg: Ravensburger-Verlag 2010, 284 Seiten, 17,50 EUR, ISBN 978-3-473-35330-9

Weiterführende Links:
Ravensburger-Verlag: Judy Blundell, Die Lügen, die wir erzählten
Homepage: Judy Blundell

Andreas Markt-Huter, 14-12-2010