Lesen im Fadenkreuz der Politik: –Die EU-Ziele von Lissabon - Teil 1

Zur Halbzeit auf dem Weg zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt musste die Europäische Kommission eingestehen: die ehrgeizig gesteckten Ziele lassen sich nicht mehr erreichen. Der größte Stolperstein, um auf dem Weg zur wissensbasierten Wirtschaft weltweit die Führungsrolle zu übernehmen, liegt im Bereich des Lesens.

Die Feiern anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Europäischen Union sind vor kurzem abgeklungen. Grund genug, um das Verhältnis der EU zum Themenbereich "Lesen" ein wenig unter die Lupe zu nehmen.

 

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Teil 1: Bildungsziel "Lesen" und EU-Politik

Vor mittlerweile sieben Jahren beschloss der Europäische Rat auf einer Tagung in Lissabon eine gemeinsame Bildungsstrategie, um auf die zunehmende Globalisierung und den Wandel zur wissensbasierten Volkswirtschaft zu reagieren. Die Erklärung besagte, dass die neuen Grundfertigkeiten in einem gemeinsamen europäischen Rahmen festgelegt und von den Einzelnen durch lebensbegleitendes Lernen erworben werden sollen. Es mutet ein wenig befremdlich an, wenn der Europäische Rat versichert, „[...] dass die Menschen Europas wichtigstes Gut sind.“ (Empfehlungen des europ. Parlaments 2006, S. 6)


Im März 2000 beschloss der Europäische Rat auf seiner Tagung in Lissabon Europa zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen". Die dafür notwendigen Grundkompetenzen im Bildungsbereich zu definieren, zählte zu den ersten Schritten, die von Seiten der EU in die Wege geleitet wurden. Auch "Lesen" wurde dabei als eine der grundlegendsten Fähigkeiten bestätigt.

 

Übergeordneter Kern der Willenserklärung der EU-Regierungschefs in Lissabon im Jahr 2000 war die Entwicklung gemeinsam festgelegter Zielvorgaben, mit denen es gelingen sollte, die EU bis 2010 zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen.“ Um dieses Ziel zu erreichen, wurden in Folge auf europäischer Ebene Grundkompetenzen definiert, die jeder Einzelne benötige, um für den Wechsel zur Wissensgesellschaft gerüstet zu sein. Ausgehend vom Leistungsniveau des Jahres 2000 verkündete der Europäische Rat seine Zielvorgaben:

Wenn es im Bereich der Ausbildung gelingt, die Europäischen Zielvorstellungen der Lissabon-Strategie bis zum Jahr 2010 zu erfüllen, sollte es gelingen,

  • dass die Zahl derjenigen, welche die Schule zu früh beenden, um 2 Millionen junge Menschen verringert wird.
  • dass die Zahl der Menschen mit einem höheren Schulabschluss um 2 Millionen Personen zunehmen wird.
  • dass die Zahl der 15-Jährigen mit schlechten Leseleistungen um 200.000 Jugendliche verringert wird.
  • dass die Zahl der Erwachsenen, die an Weiterbildungsmaßnahmen im Rahmen des lebenslangen Lernens teilnehmen, um 4 Millionen Personen ansteigt.
  • dass alle Schüler, welche die Schule verlassen, imstande sind, sich in zwei Fremdsprachen zu verständigen.
    Bericht der Europäischen Kommission, Report 2006 S. 4; (Übers. A.M.-H.)

 
Als eine der größten Herausforderungen und Probleme nannte der Zwischenbericht der  EU-Kommission den hohen Anteil der Gruppe mit schlechter Leseleistung bei den Pflichtschulabsolventen. Hier konnten bisher keine Verbesserungen erzielt werden.

 

Als eine der wesentlichen Grundfertigkeiten steht die Lesefertigkeit im Mittelpunkt der europäischen Bildungsziele, ohne die „lebensbegleitendes Lernen“ unmöglich erscheint. Hier zeigten die Ergebnisse der PISA-Studien aus den Jahr 2000, dass ein erschreckend hoher Anteil der europäischen Pflichtschulabsolventen den schlechten Lesern zugerechnet werden müssen. Im Jahr 2000 zählten im europäischen Durchschnitt 19,4% der 15-jährigen zu den schlechten Lesern. Zu dieser Risikogruppe hieß es in der Pressaussendung von PISA-Austria:

Es darf bezweifelt werden, dass diese Schüler/innen zum Verstehen alltäglicher, einfacher Texte ausreichend befähigt sind – ihre Fähigkeit zum selbstständigen Bildungserwerb ist auf jeden Fall durch die schwache Lese-Kompetenz sehr stark eingeschränkt.

Die PISA-Studie rechnet jene TestteilnehmerInnen den Schülerinnen mit schlechten Leseleistungen zu, die lediglich dem 1. Level oder darunter zugeordnet werden können und definiert sie folgendermaßen:

Schüler/innen des ersten Levels können nur wenig komplexe Leseaufgaben lösen. Bei solchen Aufgaben müssen eine oder mehrere voneinander unabhängige Informationen herausgesucht, das Hauptthema eines Textes zu einem vertrauten Gegenstand erkannt oder Informationen im Text mit einem einfachen Alltagswissen verknüpft werden.

Schüler/innen, von denen nicht erwartet werden kann, dass sie zumindest 50% der Aufgaben des 1. Levels lösen können, befinden sich "unter Level 1". Solche Schüler/innen sind nicht in der Lage, routinemäßig die grundlegendsten Fähigkeiten zu zeigen, die in PISA gemessen werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie überhaupt keine Lese-Kompetenz besitzen. Sie haben aber ernsthafte Schwierigkeiten, ihre Lese-Kompetenz als effektives Instrument einzusetzen, um ihr Wissen und ihre Fähigkeiten in anderen Bereichen zu Verbessern oder auszubauen.
PISA 2003 - nationaler Bericht, S. 26

 
"Mobilität fördert Bildung mit europäischer Dimension" gilt als Motto der von der EU verfolgten gemeinsamen Bildungsstrategie. Mittlerweile hat sich der Weg in Richtung auf die bis 2010 gesteckten Bildungsziele als durchaus steinig erwiesen.

 

Im Report der EU-Kommission 2006, der sich im Bereich Lesen auf die Ergebnisse der PISA-Studie stützt und diese interpretiert, heißt es:

Bei den 15-jährigen werden Eu-weit mehr als 1 Million der über 5 Millionen SchülerInnen der Gruppe mit schwacher Leseleistung hinzu gerechnet. Gelingt es den bis 2010 definierten europäischen Zielwert zu erreichen, würde es das bedeuten, dass sich die Zahl der SchülerInnen mit schwacher Leseleistung um 200.000 verringert. Das Erwerben von Grundkompetenzen ist der erste Schritt, um an der sich weiterentwickelnden Wissensgesellschaft teilnehmen zu können.
Bericht der Europäischen Kommission, Report 2006 S. 6; Übers. A.M.-H.

Dem in Lissabon gesteckten Ziel, den Anteil der Schulabsolventen mit schwacher Lesekompetenz bis 2010 von 19,4% um ein 1/5 auf 15,5% zu reduzieren, konnte zur Halbzeit nicht näher gekommen werden und lag in der PISA-Studie 2003 im EU-Durchschnitt bei 19;8%. Das Eingeständnis des EU-Berichts fällt ernüchternd aus, ohne jedoch zu vergessen die europäischen Musterländer hervorzuheben:

[...] Im fundamentalen Bereich des Lesens ergeben die jüngsten Daten, dass 2003 ungefähr 20% der unter 15-jährigen der EU-Mitgliedsstaaten nur die unterste Leistungsstufe beim Lesen erreichten. Auch die durchschnittliche Leistung konnte im Vergleich zum Jahr 2000 nicht verbessert werden.

Die EU hat immer noch einen langen Weg vor sich, um das vom Rat erklärte Ziel der Reduzierung der leseschwachen Jugendlichen von 20% auf 15,5% zu erreichen. Die EU-Länder, die dieses Ziel am besten erfüllen, sind Finnland (5,7%), Irland (11%) und die Niederlande (11,5%).
Bericht der Europäischen Kommission, Report 2006 S. 6, Übers. A.M.-H.


Ein neue Analyse der Daten der PISA-Studien 2000 und 2003 ergab, dass der Anteil der 15-jährigen bei den schlechten Lesern bereits im Jahr 2000 besorgniserregend hoch gewesen sei. Betrachte man lediglich die Veränderungen zwischen 2000 und 2003 habe der Anteil der schlechten Leser sogar minimal verringert werden können.

 

Der Bericht der EU-Kommission hebt hervor, dass es einigen Ländern sehr wohl gelungen sei, den Anteil an schlechten Lesern zwischen 2000 und 2003 zu verringern. Diese Verbesserung der Leseleistung hielt sich aber mit den Verschlechterungen in Ländern wie Österreich die Waage.

Zu den Ländern, die ihre Leistungen wesentlich verbessern konnten, zählen Polen und Lettland. Der Fortschritt in Polen und Lettland wird von den Ländern als Ergebnis von Reformen im Schulsystem seit 2000 betrachtet, die sich auf die Ergebnisse (der PISA-Studie - Anm. A.M.-H.) 2003 ausgewirkt haben. Belgien, Dänemark, Portugal und Finnland konnten auch kleine Fortschritte erzielen, wenn auch die Unterschiede statistisch nicht signifikant sind.

Auf der anderen Seite gab es eine beträchtliche Zunahme der Anzahl der Schüler mit schlechter Leseleistung in Österreich* und Italien (die Ergebnisse von Luxemburg, wo die Anzahl abgenommen und die Niederlande, wo sie zugenommen hat, sind zwischen den beiden Studien nicht ganz vergleichbar). Während im Bereich des Lesens keine Fortschritte erzielt werden konnten, gelang es, den Durchschnittswert in Mathematik und Naturwissenschaften in Europa im Bezug auf die PISA-Studie seit 2000 zu verbessern.

Angesichts der Tatsache, dass im Zeitraum zwischen 2000 - 2003 kein Fortschritt erzielt werden konnte, wird es für viele Länder eine Hauptherausforderung sein, ihre Leistungen ausreichend zu verbessern, damit die EU-Zielvorstellungen bis zum Jahr 2010 erreicht werden können. Wie auch immer, lässt sich nur hoffen, dass einige der Reformen, die durch die Ergebnisse der PISA-Studie 2000 eingeleitet worden sind, beim nächsten Test im Jahr 2006 Früchte tragen werden.
Bericht der Europäischen Kommission, Report 2006 S. 15f, Übers. A.M.-H.

Auch hier stellt der Bericht die „Musterschüler“ seinen „Sorgenkindern“ gegenüber. Um die große Zunahme des Anteils an leseschwachen Schulabsolventen in Österreich zu erklären, beauftragte das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur ein Konsortium von Statistikern mit der Analyse der PISA-Daten. Dabei wurde auf Mängel in der Auswertung der PISA-Studie 2000 hingewiesen, die zu falschen Werten geführt hätten und dadurch den Leistungsvergleich in einem schlechteren Licht erscheinen habe lassen.

Demnach seien bei den Testpersonen im Jahr 2000 Buben in Berufsschulen stark unterrepräsentiert und Mädchen in BHS und AHS stark überrepräsentiert gewesen, was die Leistungen im Jahr 2000 stark beschönigt habe. Österreich hat sich demnach beim Lesen gar nicht so stark verschlechtert, weil die Testergebnisse bereits im Jahr 2000 schlecht waren. Dieses interessante Ergebnis konnte aber dennoch nicht verhindern, dass Österreich im Bericht der EU-Kommission namentlich als ein Land genannt wurde, in dem der Anteil an leseschwachen 15-jährigen besonders zugenommen habe. Es bleibt ein kleiner Trost, dass in einer Fußnote des Berichts auf die geänderten Daten hingewiesen wird:

In Österreich wurde die Gewichtung der Berufsschulen innerhalb der zwei Studien geändert, sodass die Leistungsänderung für dieses Land übertrieben dargestellt wird.
Bericht der Europäischen Kommission, Report 2006 S. 15, Übers. A.M.-H.

 

 
Auch im internationalen Ranking lassen die bereinigten Daten der PISA-Studie 2000 die Stellung Österreichs weit weniger dramatisch erscheinen.

 

 

Weiterführende Links:

 

Andreas Markt-Huter, 11-04-2007

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