Lesen im Fadenkreuz der Politik: –Die EU-Ziele von Lissabon - Teil 2

Zur Halbzeit auf dem Weg zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt musste die Europäische Kommission eingestehen: die ehrgeizig gesteckten Ziele lassen sich nicht mehr erreichen. Der größte Stolperstein, um auf dem Weg zur wissensbasierten Wirtschaft weltweit die Führungsrolle zu übernehmen, liegt im Bereich des Lesens.

Die Feiern anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Europäischen Union sind vor kurzem abgeklungen. Grund genug, um das Verhältnis der EU zum Themenbereich "Lesen" ein wenig unter die Lupe zu nehmen.

 

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Teil 2: Kritische Anmerkungen

 

Eine treffende Analyse der Methode der EU, wie trotz fehlender Kompetenzen im Bildungsbereich die einzelnen Mitgliedstaaten zur Verfolgung der Lissaboner Bildungsziele bewegt werden, liefert das „Grundlagenpapier Lissabon-Strategie“ des Verbands der Schweizer Studierendenschaft aus dem Jahr 2006:

Da die Kompetenzen der Europäischen Union, auch aufgrund fehlender Strukturen, im Bereich der wirtschaftlichen Maßnahmen begrenzt und in Sachen Bildungspolitik gleich null sind (mit Ausnahme von Mobilitätsprogrammen), konnte der Europarat in Lissabon nichts über diese reine Willenserklärung hinausgehendes beschließen.

Um jedoch trotzdem in diesen Bereichen Einfluss nehmen zu können und eine gewisse Steuerung durch die EU-Kommission zu ermöglichen, wurde die „Open Method of Coordination“ (OMC) zur Weiterverfolgung der Strategie gewählt. [...] Die Exekutiven der Mitgliedsstaaten treffen als europäische Gremien gemeinsame Zielvereinbarungen und beschließen Empfehlungen zu deren Erreichung, während die konkrete Umsetzung von allfälligen Maßnahmen, also das Handeln, den jeweiligen Nationalstaaten überlassen wird.

Dadurch verschiebt sich die Entscheidungsfindung stark zu den Exekutiven hin, die auf europäischer Ebene eine Legislativ-Wirkung entfalten (Grundrichtlinien der Politik bestimmen), um die jeweiligen Maßnahmen dann gleich selbst umzusetzen. Dies führt unter anderem dazu, dass die Gesamtstrategie nie Gegenstand parlamentarischer Beratung und zu einem großen Teil abseits einer öffentlichen Debatte bestimmt wird.

Die Motivation für die Mitgliedsstaaten, bei dem „autonomen Nachvollzug“ Schritt zu halten, wird vor allem durch das so genannte „naming, blaming, faming“ erzeugt, also durch Gruppenzwang. Regelmäßig wird über den Fortgang der Reformen in den einzelnen Ländern berichtet und auf jene gezeigt, die der Entwicklung hinterher hinken oder als besonders gute Beispiele dienen. Dieses „Reporting“ wird anhand von gemeinsam festgelegten Benchmarks (also quantitativen Zielen) in einzelnen Indikatoren (wie z.B. „Anzahl ForscherInnen“) von der EU erstellt.
Grundlagenpapier Lissabon Strategie, 2006, S.1

Wie sehr dieser an sportliche Wettkämpfe erinnernde Mechanismus auch im Bildungsbereich funktioniert, lässt sich in regelmäßigen Abständen nach dem Veröffentlichen der Ergebnisse der PISA-Studie beobachten. In den öffentlichen Reaktionen bemühte sich erst gar niemand, seine Schadenfreude gegenüber dem großen Nachbarn zu verbergen und Politiker waren nicht mehr zu bremsen, wenn es darum ging, die relativ gute Positionierung Österreichs im Ländervergleich als Ergebnisse eigener Bildungspolitik zu loben.

 


Im Rahmen der PISA-Studie 2000 ergab sich bei einer Befragung der TeilnehmerInnen zu ihrer Lesefreude, dass die Mehrheit eine sehr geringe Freude am Lesen angab.

 

Umso tiefer saß der Schock  bei Politikern und Medien, nachdem die Ergebnisse der Studie 2003 bekannt wurden. Da galt plötzlich die Bildungspolitik der Vorgängerregierung dafür verantwortlich und schließlich wurde der Wert der PISA-Studie im Ganzen in Frage gestellt. Dabei war bereits die Befragung der Testpersonen über ihr Leseverhalten in der PISA-Studie 2000 wenig erfreulich ausgefallen:

Die Mehrheit der Befragten 15 bis 16-Jährigen, die an der PISA-Studie 2000 teilgenommen hatten, gab an, nicht gerne zu lesen. Ca. 28% der österreichischen Schüler/innen zeigten eine sehr hohe und ca. 20% eine hohe Lesefreude. Für ungefähr 22% war die Freude am Lesen eher gering. Den größten Anteil mit knapp 30% machten aber jene Schüler/innen aus, deren Lesefreude mit „als sehr gering“ gemessen worden war. Im Vergleich dazu waren es in Finnland ca. 38 % (23% geringe und 15% sehr geringe Lesefreude) der Schüler/innen.
Vgl. PISA 2000. Nationaler Bericht, hrsg. von Günter Haider und Claudia Reiter, Innsbruck 2001, Studienverlag, S.82

Gegen Ende dieses Jahres werden die Ergebnisse der PISA-Studie 2006 bekannt gegeben und im Jahre 2010 die Ergebnisse der PISA-Studie 2009 und der Endbericht der Europäischen Kommission über die Erreichung der Lissabon-Ziele für aufgeregte Diskussion sorgen. In den Mitgliedsländern der vielgerühmten „Solidargemeinschaft EU“ wird Aufregung herrschen und die „Verlierer“ werden voll Neid auf die „Sieger“ blicken, die ihr nationales Selbstwertgefühl wie nach einer geschlagenen Fußballschlacht zur Schau stellen können.

Die Zahl der Kritiker an der PISA-Studie, die in den letzten Jahren die öffentliche Diskussion im Bildungsbereich in ihrem Bann gehalten hat, ist im Wachsen begriffen. Dabei kommt die Kritik von den unterschiedlichsten Seiten. Die Vorwürfe reichen von Fehlern bei der technischen Auswertung der Daten, die zu falschen Ergebnisse geführt hätten. Kritisiert werden aber auch inhaltliche Mängel der Tests, wie z.B. die Unklarheit welche Fähigkeiten wirklich getestet werden oder dass bei Multiple-Choice-Tests geraten werden kann und technische Aspekte der Befragung. Dazu gehören die unterschiedliche Zusammensetzung der Testpersonen in Bezug auf Schulbildung, sozialen Hintergrund, dem Anteil an MigrantInnen u.a., wie es die FU-Berlin in ihrem Bericht: "PISA - Eine statistisch-methodische Evaluation" darlegt.

Zur grundsätzlichen Kritik heißt es auf Wikipedia:

PISA ist zunächst ein unglaubliches Geschäft. Es beschäftigt eine Generation von Wissenschaftlern, die in irgendeinem Zusammenhang mit PISA oder ähnlichem Forschungen betreiben. Damit werden Lehrstühle besetzt, wissenschaftliche Karrieren befördert und eine kaum mehr quantitativ nachvollziehbare Menge an Forschungsprojekten finanziert.

Außerdem stellt es eine unschlagbare „Folie“ für politische Auseinandersetzungen zur Verfügung. So ziemlich jede politische Forderung kann damit argumentativ abgestützt und durchgesetzt werden. Somit birgt PISA auch eine unermessliche Fundgrube für politische Karrieren. Es ist praktisch jede Idee begründbar, finanzier- und durchsetzbar, wenn diese irgendwie mit PISA in einen thematischen Zusammenhang zu bringen ist.

Zudem lebt eine ganze Generation von Verlagskaufleuten und Managern von PISA: Es werden Schulungsprogramme für schwache Schüler, von Büchern, Arbeits-, Übungs- bis Testheften, CDs und DVDs hergestellt und hervorragend verkauft. Dazu bringen TV-Sendungen, die man mit ein wenig Phantasie mit PISA verknüpft, gute Einschaltquoten.
Wikipedia: PISA-Studien


Beim Anteil der Bevölkerung mit einem ausgeprägten Leseverhalten liegt Österreich im europäischen Vergleich im hinteren Drittel, relativ weit unter dem EU-15 Durchschnitt.

 

Nichts desto trotz wird an einer Ausweitung der „PISA-Tests“ auf weitere Bevölkerungsgruppen geplant, wie der ORF bereits im November im Bericht "OECD plant PISA-Test für Erwachsene ab 2009" verlautbarte. Der PISA-Koordinator der OECD, Andreas Schleicher, plant bis 2009 einen internationalen Vergleichstest für Erwachsene, in dem mit Hilfe einfacherer Aufgaben Basiskompetenzen getestet werden sollen. In Folge sei weiterführend ein analoger Test für Studenten geplant.

Für weit weniger Aufsehen als die PISA-Studie hat in Österreich eine ebenfalls im Jahr 2000 durchgeführte Studie über das Leseverhalten im europäischen Vergleich gesorgt. Ergebnis der Studie war: die Österreicher zählen zu den Lesemuffeln: Fast 40% der Befragten hatten im Jahr 2000 kein einziges Buch und nur 26% zumindest 8 Bücher gelesen. Mehr als 80% der Befragten gab an, im Jahr 2000 nie eine Öffentliche Bibliothek besucht zu haben. Nur knapp 5% ging zumindest 7x in eine Bücherei. Bei fast allen Vergleichswerten lag Österreich europaweit im letzten Drittel. Ähnlich wie bei den 15-jährigen kann auch der Mehrheit der erwachsenen Österreicher keine rechte Freude am Lesen nachgesagt werden.

Ein Aspekt, der sich aus den Studien und Ländervergleichen ergeben hat, sind die zahlreichen Projekte im Bereich der Leseförderung, die seit Anfang 2004 auch in Tirol gestartet worden sind. Eine Mitarbeiterin, der seit 2004 an den Tiroler Volksschulen eingesetzten Leseförderungseinrichtung "Tiroler Lesekompetenz", bemerkte in einem ersten Ressümee:

Wenn es uns gelingt, dass der Leselernprozess für viele Kinder erfolgreich abgeschlossen wird, dann werden sie automatisch zu Lesern, weil sie beim Lesen etwas erleben, was sie fasziniert. Wenn sie Lesen können, erfassen sie den Inhalt eines Buches und lesen es zu Ende. Bücher werden meist nur deshalb nicht gelesen, weil Kinder mit Leseschwierigkeiten den Inhalt nicht verstehen und das Lesen als äußerst mühevoll erlebt wird und sie nicht weiterkommen in einem Buch.

Wer lesen kann, findet schon sein Buch, ob bei der Freundin oder in einer Bücherei. Unsere Aufgabe ist es, darauf zu schauen, dass ein Kind Freude am Lesen hat, weil es lesen kann. Wir geben ihnen jene Instrumente in die Hand, mit denen sie Lesen lernen können.
>> Die Tiroler Lesekompetenz: Leseschwachen Kindern kann geholfen werden. Teil 3

Die Bereiche in denen Menschen in mehr oder weniger nachvollziehbaren Leistungstests bewertet werden, ergreift gegenwärtig fast alle Bereiche der Bildungs- und Arbeitswelt. Dass Arbeitsplätze immer häufiger, aufgrund "ausgeklügelter" Eignungstests vergeben werden, wird ebenso selbstverständlich, wie der alle drei Jahre stattfindende PISA-Test für die Pflichtschulabsolventen. Dass für die Zukunft ähnliche Tests auch für Studierende und Erwachsene geplant sind, rundet das derzeitig vorherrschende Bild einer "Wissensgesellschaft" nur noch ab.

Auch in Bezug auf das Lesen treten Zahlen und Rankings zunehmend in den Vordergrund und wird Bildung als Mittel zum Zweck für ein großes wirtschaftliches Ziel betrachtet. Der Wettbewerb zwischen Schülern in den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften findet seine Fortsetzung im Wettbewerb zwischen den Nationen und Wirtschaften. Die Ausssicht in diesem Wettbewerb als Sieger hervorzugehen, mag manche vielleicht motivieren, andere aber auch lähmen.


Lesen als Möglichkeit zur Muse, persönlichen Bildung oder auch nur Entspannung  wird immer mehr von Zweckmäßigkeitserwägungen überlagert und auf die Erfordernisse des Wirtschafts- und Arbeitslebens hin orientiert. Berthe MorisotTwo Women Reading, 1869-70, oil on canvas, National Gallery of Art, Washington (University Milwaukee)

 

Gerhard Falschlehner, Geschäftsführer des Österreichischen Buchklubs, schrieb in seinem Artikel "Die PISA-Seuche:

Manche Diktion weckt dabei den Eindruck, Lesen sei eine Krankheit: die PISA-Seuche. Ich halte das frühe Erkennen von Leseschwächen für eine wichtige Maßnahme und habe auch kein wirklich gewichtiges Argument gegen die Einführung von Standards (außer einem indifferenten Unbehagen in der Magengegend).

Aber wir laufen in der Lesedidaktik wieder einmal Gefahr, Lesen in den klinischen Bereich abrutschen zu lassen und auf reine Lesetechnik zu reduzieren. Die Wortwahl in manchen Diskussionen – Screening, Symptome, Diagnose, Therapie – lässt mich erschaudern. Und noch bedrohlicher ist der Trend, im ständigen Testen der Kinder ein Allheilmittel zu sehen.
Gerhard Falschlehner, Die PISA-Seuche

Die Fähigkeit zu Lesen ist zweifelsfrei eine wichtige Voraussetzung sowohl für die berufliche Entwicklung und Weiterbildung als auch für die Auseinandersetzung mit der Fülle an Informationen, die täglich auf uns einwirken und bildet somit den Kern einer persönlichen Weiterbildung und Auseinandersetzung mit unserer Gesellschaft. Aber nicht nur, dass wir lesen, auch was wir lesen, bestimmt unser Bild von der Welt und verändert es. In diesem Sinn hilft uns sowohl die sogenannte klassische Literatur vergangener Zeiten als auch die Gegenwartsliteratur, Denkwelten zu erhalten oder neu zu eröffnen, um sie den jeweils vorherrschenden Denkwelten gegenüber zu stellen.  Nur so kann eine gesellschaftliche Entwicklung im demokratischen Sinn gewährleistet bleiben.

 

 

Weiterführende Links:

 

Andreas Markt-Huter, 18-04-2007

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