Andrea Wolfmayr, Im Zug

Buch-Cover

Im Volksmund werden Geschichten vom täglichen Zug-Fahren längst Pendler-Roman genannt. So ein Roman wird nicht gelesen, sondern täglich inszeniert.

Andrea Wolfmayr nennt ihren Pendler-Roman Im Zug. Die Erzählerin schreibt dabei gut drei Jahre lang zwischen 2008 und 2010 alles auf, was täglich zwischen Gleisdorf und Graz im Zug passiert, und als Leser liest man diese Aufzeichnungen in einem Zug.

Während gewöhnliche Pendler entweder flache Zeitungen lesen oder aus flachen Sticks Musik in die Ohren einleiten, schreibt A. quasi um ihr Leben. Natürlich ist die Strecke immer gleich lang, aber durch Abwarten eines Gegenzuges, Entfernen eines Tierkadavers, technische Panne nach einem Suizid und unerwarteten Triebwerksschaden ist jeden Tag für Spannung gesorgt.

Die Außenwelt bleibt nahezu unverändert, ein still gelegtes Haus verwittert verlässlich, ein Reh hält sich am Waldesrand an den Äsungs-Fahrplan. Auch politisch tut sich nichts, die Pendlerin war einmal Abgeordnete im Nationalrat, hat aber inzwischen ziemlich abgeschlossen mit der Politik. Nicht einmal wenn eine stupide Schlagzeile auf einem Kleinformat aufleuchtet, entlockt es ihr einen Kommentar.

Im Innern freilich ist jeden Tag die Hölle los. A. steigt jeden Tag auf die Waage und muss feststellen, dass sie immer fetter wird. Schuldgefühle, Ekel und Panik lösen sich ab, dabei ist der Grund offensichtlich ein überhöhter Alkoholkonsum, ohne die Grundausrüstung Campari Prosecco geht schon gar nichts. Fast alle Krankheiten kommen A. in den Sinn, an manchen Tagen fürchtet sie sich vor drei Krankheiten gleichzeitig. Außerdem ist ihr Mann orientierungslos, die Beziehung schläft so nebenbei dahin, außer dem ständigen Fressen hält das Paar nichts zusammen.

Seltsamerweise kommt die Arbeit wenig zur Sprache, zwei Jahre noch, dann ist der Spuk vorbei, ein Kollege stirbt überraschend und es gibt für A. einen neuen Schreibtisch. Pendeln wird allmählich zu einem Lebenszustand, dem sich alles unterzuordnen hat. Eine Veränderung ist nicht möglich, Erlösung schafft wohl nur die Pension oder gar der Tod.

Andererseits verschlechtert die Bahn ständig das Angebot, erhöht die Preise, dünnt den Fahrplan aus. Am Altern der Schaffner bemerkt man, wie unbarmherzig die Zeit vergeht.

Wie Gespenster treten in der Mitte des Buches in acht Porträts von Philipp Podesser Pendler aus dem Schwarz der Nacht. Sie treten aus den eigenen Augenhöhlen, schreibt Andrea Wolfmayr im Nachspann. Diese Pendler im Foto sind gezeichnet von der Erbarmungslosigkeit der Dunkelheit.

Andrea Wolfmayrs Aufzeichnungen sind ein kaltschnäuziger Kommentar zu einer Lebensform, die niemand außer den Betroffenen wahr nimmt. Erträgliche Sequenzen wechseln sich mit dem Wahnsinn des Dahin-Wartens ab. Pendeln ist wie eine Beziehungskiste, selbstverschuldet und letztlich ausweglos.

Andrea Wolfmayr, Im Zug. Aufzeichnungen einer Pendlerin
Graz: Keiper 2011, 426 Seiten, 22,50 €, ISBN 978-3-9502761-9-0

 

Weiterführender Link:
Edition Keiper: Andrea Wolfmayr, Im Zug

 

Helmuth Schönauer, 17-08-2011

 

 

Bibliographie

AutorIn

Andrea Wolfmayr

Buchtitel

Im Zug. Aufzeichnungen einer Pendlerin

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2011

Verlag

Keiper

Seitenzahl

426

Preis in EUR

22,50

ISBN

978-3-9502761-9-0

Kurzbiographie AutorIn

Andrea Wolfmayr, geb. 1953 in Gleisdorf, lebt in Gleisdorf.

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