Andrzej Stasiuk, Hinter der Blechwand

Buch-Cover

Manche Romane sind so voll von Abenteuer, Überlebenskunst, Lebenssinn und politischer Kommentierung, dass einem als Leser bloß die Seitennummerierung bleibt, um sich zurechtzufinden.

Andrzej Stasiuk ist der Meister des abenteuerlichen Agonie-Romans. Hinter der Blechwand spielt sich vielleicht die Erlösung ab, vielleicht aber der Gnadenstoß in die Hölle. Die Metapher der Blechwand stammt aus dem Flüchtlings- und Schlepperwesen, während der Lenker durch unwirtliches Grenzgebiet fährt, sitzen hinter der Blechwand des Transporters die Flüchtlinge, alle unterwegs in eine wilde Zukunft.

Ein Ich-Erzähler, dessen einziger Lebensinhalt ein grenzwertiger Kleintransporter ist, schlägt sich mit seinem Freund durch die postsowjetischen Jahrzehnte und durch die neuen Grenzgebiete am Rande Europas. Einerseits gibt es immer etwas zu handeln, andererseits wird durch das gepflegte Nichtstun vielleicht der überall vorpreschende Kapitalismus ein wenig gebremst. So entsteht eine Philosophie des leichten Seins, voll von Zigaretten, Alkohol und totgeschlagener Zeit.

An warmen Tagen setzten wir uns an den Fluss und schauten auf die andere Seite. (37)
Ich liebte diese Resignation, von der Kleidung, Einrichtung und Wände durchdrungen waren. (69)
Um schneller einschlafen zu können, rief ich mir mein Leben in Erinnerung. (86)


Der Roman ist voll mit Gebrauchsanleitungen für das pure Überleben am Rande des Kontinents. Verlässlich wird der Müll aus allen Teilen der Welt an die Ärmsten der Armen verkauft, die manchmal einfach genug von ihrem ewigen Schafskäse haben und aus den Karpaten herunter strömen in die Blechhallen, um sich billiges Wegwerf-Zeug an die ausgezehrten Körper zu hängen.

Der Erzähler und sein Freund erleben eine Wirtschaftsgeschichte der anderen Art. Ständig wird gehandelt, um Prozente gefeilscht, ehe Lederwaren, Autoreifen oder seltsamer Schnaps die Seiten wechseln.

Dabei ist diese Welt durchaus brutal, ein Wildschwein frisst einen Adidas-beschuhten Asiaten mitten am Markt, ein Schlepper-Boss wird in einen Schweinekoben geschmissen und stirbt unter dem Geschmatze ausgehungerter Tiere. Ununterbrochen müssen sinnlose Patrouillen und Grenzgänger geschmiert werden, je entlegener die Gegend, umso unerwarteter treten Figuren mit militärischen Gadgets auf (140).

Manchmal liegt eine solche Ruhe und Unentschlossenheit über dem Land, dass nicht einmal der Winter kommen mag. Dann wieder ist ein Rand-Held so "aufgedreht, als wäre in ihm selbst etwas destilliert worden." (292)

Immer wieder verlieren sich Erzähler und Händler-Freund in einer Schaffenspause des Nichtstuns, am Schluss verlieren sie sich im Millionengewusel von Istanbul in einer amorphen Aufbruchsstimmung.

Andrzej Stasiuk erzählt in einer Überlebenssprache, in der nur die wichtigsten Geräusche, Farben und Witterungen vorkommen. Dennoch ist dieser Kosmos überdimensioniert für diese Überlebenshelden, die wahrscheinlich mehr Philosophie im Bauch haben als die gesamte deutsche Philosophiegeschichte. Ein wütendes, wahnsinniges, völlig aus dem Tritt geratenes Erzählkonzept, das dem Leser tagelang nicht mehr von der Seite weicht!

Andrzej Stasiuk, Hinter der Blechwand. Roman, a. d. Poln. von Renate Schmidgall. [Orig.: Taksim, Wolowiec 2009.]
Berlin: Suhrkamp 2011, 348 Seiten, 22,90 €, ISBN 978-3-518-42254-0

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp-Verlag: Andrzej Stasiuk, Hinter der Blechwand

 

Helmuth Schönauer, 06-09-2011

 

 

Bibliographie

AutorIn

Andrzej Stasiuk

Buchtitel

Hinter der Blechwand

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2011

Verlag

Suhrkamp

Seitenzahl

348

Preis in EUR

22,90

ISBN

978-3-518-42254-0

Kurzbiographie AutorIn

Andrzej Stasiuk, geb. 1960 in Warschau, lebt in den Beskiden.

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