Per Petterson, Ich verfluche den Fluss der Zeit

Buch-Cover

Ein kluger Titel ist so logisch, dass er damit das ganze Buch erklärt, und so rätselhaft, dass er einen geradezu in die Lektüre zwingt.

Per Petterson stellt eine Zeile aus einem Mao-Gedicht über den ganzen Roman. In diesem Zeitfluss ist die Handlung einerseits klar, und dann doch wieder verworren. Zumindest für die Hauptfigur Arvid, der sich einerseits mit Literatur der Arbeit beschäftigt und andererseits handfest in diversen Berufen anpackt. ?Ich dachte, ich müsste das tun. Aber das musste ich nicht. (86)

Die innere Ordnung des Helden und die äußere Welt laufen nicht synchron. Da gibt es einmal die Geschichte seiner Mutter, die sich, als sie von ihrer Krebserkrankung erfährt, in das Haus ihrer Kindheit zurückzieht. Sofort fährt ihr Arvid nach, als könne er durch seine Anwesenheit etwas verändern.

In Wirklichkeit gerät er in sinnlose Schlägereien unter Freunden, betrinkt sich "nordisch", fällt als Mutprobe gegen die eigene Kindheit einen Baum und schleppt die Nachricht durch die Gegend, dass seine Scheidung ansteht.

Durch mein Leben ging ein Riss, ein Graben, und dieser Graben ließ sich nur mit Bier füllen. (183)

In lichten Momenten oder ungewollten Rückblenden tauchen sie dann alle auf, der Vater, der die erste Arbeit vermittelt hat, die Arbeitskollegen und Gewerkschafter, die Kinder am Rücksitz, der fremde Hund, den er zur Einschläferung gebracht hat, und als Beweis eine leere Leine mitbekommen hat, und der Bruder, der im Krankenhaus liegt und sterben wird.

Ein altes Fährschiff stellt die Verbindung zur Kindheit her, früher waren sie alle in Dänemark, jetzt spielt sich das meiste in Oslo ab, aber eigentlich ist es die Fähre, die durch die Zeit fließt, worauf man starken Schnaps trinken kann, bis man am Ziel ist.

Wenn schon die eigenen Ereignisse nichts Elementares zur Sinnfindung beisteuern können, vielleicht schafft es die Weltgeschichte. Als die Mauer in Berlin fällt, nimmt es Arvid als starkes Zeichen, dass man die neue Zeit zumindest erleben muss, wenn man sie schon nicht deuten kann.

Und die Mutter fährt mit ihrem Krebs allein gelassen durch die Zukunft, als ob es eine reine Nebenhandlung wäre.

Per Petterson erzählt verrückt normal in diesen Schlieren, die den Helden zwischen Larmoyanz und Aufklärung versinken lassen. Die großen Gesellschaftsthemen fallen beiläufig und geben sich unwichtig, das bloße Sitzen im Fluss der Zeit frisst jegliche Aufmerksamkeit. - Eine unaufgeregte Darstellung eines wilden Lebensgefühls.

Per Petterson, Ich verfluche den Fluss der Zeit. Roman, a. d. Norweg. von Ina Kronenberger [Orig.: Jeg forbanner tidens elv, Oslo 2008.]
München: Hanser 2009, 238 Seiten, 18,40 €, ISBN 978-3-446-23450-8

 

Helmuth Schönauer, 04-10-2011

Bibliographie

AutorIn

Per Petterson

Buchtitel

Ich verfluche den Fluss der Zeit

Originaltitel

Jeg forbanner tidens elv

Erscheinungsort

München

Erscheinungsjahr

2009

Verlag

Hanser

Übersetzung

Ina Kronenberger

Seitenzahl

238

Preis in EUR

18,40

ISBN

978-3-446-23450-8

Kurzbiographie AutorIn

Per Petterson, geb. 1952 in Oslo, ist Bibliothekar und lebt als Schriftsteller in Oslo.

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