Ann Leckie, Der Rabengott
„Wenn du es vorher noch nie erlebt hattest, dann erlebtest du es jetzt. Ich glaube, es hat dich erschreckt oder verängstigt, denn während dein Blick immer noch auf Mawat gerichtet war, wichst du einen Schritt zurück und legtest eine Hand auf die Wand, als müsstest du dich abstützen. Dann drehtest du den Kopf und starrtest deine Finger an, schließlich deine Füße, als spürtest du das schwache knirschende Vibrieren in den gelblichen Steinmauern. Konntest du mich hören, Eolo? Kannst du mich jetzt hören? Ich spreche zu dir.“ (S. 27 f)
Im Königreich Iraden wacht der Rabengott, in einem Turm in der Hafenstadt Vasta über das Reich. Über einen Raben als Instrument kommuniziert er mit seinem menschlichen Statthalter, dessen Leben eng an das Leben des Vogels des Rabengottes gebunden ist und mit dem Tod des Vogels sterben muss. Als Mawat, der Kommandeuer der Armee Iradens, erfährt, dass sein Vater, der Statthalter erkrankt ist, kehrt er zurück und muss feststellen, dass sein Onkel Hilbal die Rolle des mächtigen Statthalters eingenommen hat.
Der Rabengott sieht vor, dass der Statthalter mit großer Macht ausgestattet wird, doch ist er verpflichtet, sich das Leben zu nehmen, wenn der vom Gott bewohnte Rabe stirbt. Der Tod des Statthalters versorgt das Ei mit dem nachfolgenden Raben die Kraft, um vom Rabengott bewohnt zu werden. Hibal und seine Verbündeten beschuldigen Mawats Vater die Flucht ergriffen und sich dem geforderten Menschenopfer entzogen zu haben. Mawat, der eigentlich der Nachfolger seines Vaters sein sollte, weist die Anschuldigung zurück und klagt Hibal an, die Macht unrechtmäßig an sich gerissen zu haben und damit die Stabilität von Vastai und den Handel mit den anderen Ländern zu gefährden.
Mawat macht sich mit seinem treuen Begleiter Eolo daran gegen seinen Onkel Hibal vorzugehen. Dabei gelingt es Eolo, die Wahrheit über Mawats Vater aber auch über den Rabengott aufzudecken.
Der Gott „Stärke und Geduld“, der den Felsstein auf einem Hügel bewohnt, erzählt diese Geschichte als Ich-Erzähler. Neben der Handlung rund um Mawat, die der Gott aus der Perspektive Eolos ausführt, berichtet er auch von seiner eigenen Entstehung aus dem Meer vor Urzeiten und davon, wie er im Laufe der Kriege zwischen den Ländern Vastai und Ard Vusktia in den Bann des Rabengottes geraten war.
Die Rahmenhandlung des Fantasy-Romans „Der Rabengott“ orientiert sich unverkennbar an Shakespeares Drama „Hamlet“, das durch die Verbindung mit verschiedenen Göttern aber eine neue und eigenständige Erzähldimension annimmt. Dazu gehört auch die ungewohnte und mitunter anstrengend wirkende Perspektive, die der Ich-Erzähler aus der Sicht der Person des Eolo einnimmt.
Dabei wechselt die spannend erzählte Geschichte immer wieder zwischen der Geschichte von Intrigen, Politik und Macht in Reich Vastai und der persönlichen Geschichte des Gottes „Stärke und Geduld“, die am Ende zusammengeführt werden. Ein lesenswerter und origineller Fantasy-Roman, der durch seine ungewohnte Erzählweise und fantasievolle Umsetzung ein spannendes Lesevergnügen verspricht.
Ann Leckie, Der Rabengott. Übers. v. Michael Pfingstl [Orig. Titel: The Raven Tower], ab 16 Jahren
Stuttgart: Hobbit Presse / Klett-Cotta Verlag 2024, 368 Seiten, 26,80 €, ISBN 978-3-608-96602-2
Weiterführende Links:
Hobbit Presse: Ann Leckie, Der Rabengott
Wikipedia: Ann Leckie (engl.)
Andreas Markt-Huter, 06-05-2024