José Saramago, Kain

Buch-Cover

Ein Sprichwort in der Literatur besagt, wenn du einmal einen Preis bekommen hast, hast du die Unverfrorenheit beim Schreiben verloren.

José Saramago hat 1998 den Nobelpreis für Literatur erhalten und natürlich werden die Bücher, die er mit dem Preis im Rücken geschrieben hat, schärfer beurteilt als seine früheren Bücher, die in sich scharf waren. Der Roman Kain, im Original ein Jahr vor dem Tod des Autors erschienen, erzeugt natürlich eine gewisse Milde, das letzte Werk eines Autors ragt ja oft schon mit einem Fuß ins Jenseits, lautet eine andere Leseweisheit.

Der Roman Kain ist auf den ersten Blick nichts anderes, als ein Stück Bibel mit dem Vokabular der Gegenwart erzählt. So erinnert der Roman an die CDs von Michael Köhlmeier, der die Geschichten herunter erzählt und dabei Erinnerungen an die eigene Ministranten-Tätigkeit erweckt.

Wer also für sich geklärt hat, warum er statt Literatur plötzlich ein Stück Bibel lesen will, der bekommt im Roman Kain ein paar erzähltechnische Besonderheiten geliefert. Zum einen gehen Dialoge, Sätze der Überlieferung und Sätze der Gegenwart nahtlos in einander über. Zum zweiten werden die biblischen Zeithorizonte wegrationalisiert und alle Figuren des Alten Testaments tauchen auf einer einzigen Handlungsebene auf. Und drittens wird das Gemüt gegenwärtiger Menschen in die archaischen Figuren vor der Zeitrechnung gespiegelt.

Wer sich im Original halbwegs auskennt, wird durch die Verfremdung und Veränderung der Handlung manchen Genuss erleben, wer sich mit der Bibel nicht so recht auskennt oder auskennen will, dem ist es letztlich egal, ob Kain mit Lilith geschlafen hat und welcher Esel einen Helden nach Jericho getragen hat.

In den Text sind freilich auch persönliche Glaubensbekenntnisse, esoterische Überlegungen und mantrische Übungen eingestreut.

Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte ihrer Uneinigkeiten mit Gott, weder versteht er uns, noch verstehen wir ihn. (89)

In einem Spätwerk werden die meisten Angelegenheiten sehr milde beschrieben, und selbst die wildeste Sexualität legt sich die Zügel in den eigenen Mund und wird gezähmt zu Ende geritten.

Kain ist inzwischen eingetreten, hat in Liliths Bett geschlafen, und so unglaublich es auch klingen mag, seine sexuelle Unerfahrenheit hat ihn davor bewahrt, im Strudel der Wollust unterzugehen, die sich der Frau augenblicklich bemächtigte, sie in Ekstase versetzte und wie besessen schreien ließ. Sie knirschte mit den Zähnen, biss ins Kopfkissen, dann dem Mann in die Schulter und saugte sein Blut auf. (61)

Letztlich bleibt nach der Lektüre wieder einmal die eherne Lese-Faustregel gültig, wonach Religion verdunkelt und Literatur erhellt. Dieser Roman verdunkelt ziemlich.

José Saramago, Kain. Roman. A. d. Portug. von Karin von Schweder-Schreiner, [Orig. Cain, Lissabon 2009]
Hamburg: Hoffmann und Campe 2011, 174 Seiten, 19,90 €, ISBN 978-3-455-40295-7

 

Helmuth Schönauer, 24-11-2011

Bibliographie

AutorIn

José Saramago

Buchtitel

Kain

Originaltitel

Cain

Erscheinungsort

Hamburg

Erscheinungsjahr

2011

Verlag

Hoffmann & Campe

Übersetzung

Karin von Schweder-Schreiner

Seitenzahl

174

Preis in EUR

19,90

ISBN

978-3-455-40295-7

Kurzbiographie AutorIn

José Saramago, geb. 1922 in Azinhaga, starb 2010 auf Lanzarote.

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