Juri Andruchowytsch, Perversion

Buch-Cover

Das Wort Perversion hat neben dem magischen auch einen magnetischen Aspekt. Kaum fällt der Ausdruck Perversion, stürzen sich alle darauf und diskutieren, was denn nun an dieser Perversion alles verdreht, echt oder wahrhaftig ist.

Juri Andruchowytsch nimmt die Lust nach Perversion zum Anlass, um einerseits Interesse an seinem Helden zu wecken und andererseits die verqueren Gesichtszüge der Geschichte und ihren Wahrheitscharakter darzustellen. Sein Held Stanislaus Perfezki ist ukrainischer Untergrundkünstler, der in seiner Kunst erst wahr genommen wird, als er verschwindet.

In Venedig findet ein Symposion über den Post-Karnevalismus statt, bei dem der Künstler einen Auftritt hinlegen soll. Aber schon auf dem Weg dorthin, der in irrsinnigem Speed von München über Innsbruck abgewickelt wird, gerät das Weltbild aus den Fugen, denn Perfezki wird schon seit München von der Liebesagentin Ada umgarnt und seiner Sinne enthoben.

In Venedig findet das Symposion schräg wie alle Veranstaltungen dieser Art statt, teils sind die Thesen maskenhaft, teils wird der Karneval als die wahre Staatsform ausgerufen. Am Abend jedoch verschwindet Perfezki spurlos, er könnte vom Balkon des Hotels aus in den Kanal gesprungen sein, er könnte sich in Luft aufgelöst haben, er könnte aber überhaupt eine Identität als Fake angenommen haben.

Der Roman wird umrahmt vom Arbeitsbericht eines Herausgebers, dieser erklärt die Schwierigkeit, Nachrichten eines Verschwundenen real zu edieren. Im Kern des Romans werden in einunddreißig Kapitel alle Register des Erzählens gezogen. Ein Agent stellt seine Beobachtungen dar, jemand hält ein offensichtlich sinnloses Referat, eine verschollene Oper wird zumindest als Inhaltsangabe offen gelegt, in einer Talkshow gibt ein Tagungsteilnehmer venezianisch-Privates zum Besten, in einem Fragebogen über die Liebe gibt die Liebesagentin Auskunft über die hormonelle Lage des Delinquenten, ein Entwurf für einen Parte-Zettel und ein Testament hart an der Grenze zur Fälschung vervollständigen den barocken Erzähl-Tumult.

Dabei sind oft kurze Lebensanleitungen eingestreut.

Aber es gibt eine Rettung: Ich muss nur aufstehen und weiterleben. (60)

Oder zur Liebe:

Versuche, mich nicht anderen zu überlassen. (262)

In einem riesigen Kapitel kommt mittendrin die ukrainische Geschichte zum Vorschein, wie sie im Untergrund gemanagt wird und im historischen Windschatten ihre volle Blüte erlebt. Auch die ukrainischen Beschreibungen strotzen nur so von Plastizität, so hat eine Tänzerin wegen der heftigen ukrainischen Tänze unheimlich starke und elastische Beine, die auch für die Liebe taugen.

Juri Andruchowytsch hat mit Perversion ein Meisterwerk hingelegt. Voll von Anspielungen, erzählerischen Querschüssen und ausufernder Üppigkeit des Stoffs. Hinter dem Karneval von Venedig bricht sich die reale Geschichte der Ukraine eine Bahn, stets von neuem aufgerollt durch die seltsamsten Erzähltechniken. - Ein wundersamer Orgasmus voller Textsorten und Abschweifungen, eine echte Perversion!

Juri Andruchowytsch, Perversion. Roman. A. d. Ukrain. von Sabine Stöhr, [Orig.: Perverzia; Lwiw 1999]
Berlin: Suhrkamp 2011, 332 Seiten, 23,60 €, ISBN 978-3-518-42249-6

 

Helmuth Schönauer, 24-11-2011

Bibliographie

AutorIn

Juri Andruchowytsch

Buchtitel

Perversion

Originaltitel

Perverzia

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2011

Verlag

Suhrkamp

Übersetzung

Sabine Stöhr

Seitenzahl

332

Preis in EUR

23,60

ISBN

978-3-518-42249-6

Kurzbiographie AutorIn

Juri Andruchowytsch, geb. 1960 in Iwano-Frankiwsk/Westukraine, dem früheren galizischen Stanislau, lebt in Iwano-Frankiwsk.

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