Ilma Rakusa, Langsamer!

Buch-CoverLangsamer! – Die Tante im Hintergrund kann noch so rufen, das Kind wird es dennoch auf die Schnauze hauen.

Irgendwie erinnert dieses literarische „Langsamer!“ an eine germanistisch-slavistische Tante, welche diesen betulichen Befehl jenen zuruft, die ohnehin schon langsam sind, nämlich den Lesern von heruntergefahrenen Texten von Verzögerungsautoren.

Ilma Rakusa hat ihre Lektüreerfahrung in schöne Begriffspaare geordnet und diesen einen Verzögerungsbefehl aufgesetzt, der etwa so sinnvoll ist wie der Ruf: Gelber! Mehr Dezember! Alphabetischer!

Die Kapitel heißen Lektüre, Arbeit, Natur, Geschwindigkeit, Schrift, Auszeit, Muße, Erlebnis und Reise und thematisieren literarisch Dinge wie Liebe, Anmut, Nichtstun, Grenze, Schlaf, Alter, Märchen, Entschleunigung und Ruhe.

Also die Langsamkeit mag schon ein Wert sein, aber in der Komposition der Autorin wird die Langsamkeit apodiktisch zu etwas Gutem erklärt, was sie ja nicht von vorne herein ist. Ich möchte Ilma Rakusa sehen, wenn sie beim Einkaufen an der Kasse hinter einer Münze kramenden Konsumnudel warten muss, die für das Bezahlen von drei Dingen eine Dreiviertelstunde braucht!

Niemand kann heute mehr lange Sätze schreiben und verstehen, dabei liefern diese langen Sätze eine neue Dimension von Langsamkeit, heißt ein anderes seltsames Urteil. Wenn ich mit Hyperlink mitten aus dem Satz heraus die Ebenen wechseln kann, brauche ich nicht diese eingefrorene Zeit, wie sie Marcel Proust beim Auswickeln eines Madleins zelebriert, könnte man dagegen halten.

Und dann wieder einmal Goethe, 1825 hat er einen Satz zur Geschwindigkeit gesagt und dabei fast die Eisenbahn vorweg genommen. Um ein Haar hätte Ilma Rakusa wie damals Fritz Raddatz den Goethe was zur Eisenbahn sagen lassen, wegen dieses Unzitates hat man seinerzeit Raddatz immerhin aus dem ZEIT-Feuilleton geschmissen.

Und wieder einmal Robert Musil. Schade, dass er die Beschleunigung unserer Tage nicht erlebt hat, er hätte sicher etwas Interessantes dazu geschrieben. – Das ist ungefähr so pfiffig, wie wenn ich mir wünsche: Schade, dass Papst Pius nicht noch ein paar Enzykliken geschrieben hat.

Und dann Peter Handke, seine Verlangsamung wird zelebriert, bis sie mit der Welt nichts mehr zu tun hat. Und wieder einmal Marc Aurel, der als der Inbegriff des Muße-Philosophen gilt, obwohl er zusammen mit der Soldateska ziemlich grob gewütet hat.

Auch die böse Globalisierung und der satanische Kapitalismus kriegen wieder einmal das musische Fett ab, als ob Veränderung immer Gefahr bedeuten würde.

Das beschauliche Konzept der Ilma Rakusa ist ja sehr nett, aber es kann sich eben nur jemand leisten, der einen Muße-Beruf wie die Autorin hat. Für jemanden, der sich um das Leben kümmern muss, ist der Ruf „Langsamer!“ ziemlich pervers. Und so darf man sich nicht wundern, wenn die Leser manchmal als weltfremde Beuteltiere bezeichnet werden, die ausschließlich aus Gründen der Weltflucht in den Büchern abtauchen.

Das Buch ist nett aber nicht gerade zwingend notwendig. Zum Thema Entschleunigung gibt es nämlich jede Menge passabler Ratgeber und Sachbücher. Und für das langsame Lesen braucht es letztlich nicht diese beweihräuchernde Zelebration langsamer Autoren.

Ilma Rakusa: Langsamer! Gegen Atemlosigkeit, Akzeleration und andere Zumutungen.
Graz: Droschl 2005. 89 Seiten. EUR 12,-. ISBN 3-85420-692-5.

 

Helmuth Schönauer, 31-12-2005

Bibliographie

AutorIn

Ilma Rakusa

Buchtitel

Langsamer!

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2005

Verlag

Droschl

Seitenzahl

89

Preis in EUR

EUR 12,-

ISBN

3-85420-692-5

Kurzbiographie AutorIn

Ilma Rakusa, geb. 1946, lebt in Zürich.

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