Margit Hahn, Totreden

Buch-Cover

Es gab einmal eine Literatur der Arbeitswelt, die war noch viel bitterer als die Arbeitswelt selbst und wurde nach dem kohleschwarzen Industrieort der DDR „Bitterfelder Weg“ genannt. Mittlerweile ist die Arbeitswelt tief-dirty geworden, aber die Literatur begegnet diesem Höllenphänomen mit Witz und Skurrilität, man denke nur an Kathrin Rögglas über-wachen Roman „Wir schlafen nicht“.

Margit Hahn postiert in ihren gut zwanzig Erzählungen Figuren rund um die Arbeitswelt, die entweder schon tot sind, und darüber noch reden, oder ihr Leben gerade kaputt reden. Ausgepumpte Menschen zwischen vierzig und geht nicht mehr legen uns Lesern ihre Herzen auf den Tisch mit der Bitte, sie irgendwie zu reanimieren oder doch so zu tun, als sei es noch nicht so schlimm.

Hinter den Geschichten um stressigen Seniorensex, jugendliche Accessoires, kaputte Beziehungen und abgeknickte Karriereleitern stehen abgefackelte, outgesourcte und weggespülte Lebensentwürfe, die mit falschen Sätzen ihre bisherigen Lebensziele ausröcheln.

Oft sind es nur kleine Irritationen, die eine unheimliche Veränderung auslösen, etwa wenn es einem Außendienstmitarbeiter nicht mehr gelingt, die nächtliche Sexualtherapeutin mit auf die Rechnung zu setzen, oder wenn das Verschwinden eines Kollegen in der Geschäftsleitung nichts anderes als die Einführung einer lückenlosen Überwachung auslöst.

Meist aber sind die Figuren mit sich selbst an Nebenfronten beschäftigt. So versucht ein Paar trotz großer Übermüdung in der Arbeitswelt halbwegs locker ein Kind zu zeugen, was natürlich nicht gelingt.

In anderen Etagen sind Protagonisten damit beschäftigt, das Sexualleben mit dem Dienstkalender in Einklang zu bringen. Die moderne Arbeitswelt freilich bringt es mit sich, dass man ihr nirgendwo entrinnen kann, Termine fressen die Freizeit auf, Beziehungskisten aus dem Büro gehen schnarrend in privater Atmosphäre auf, der Einsatz an mehreren Beziehungsfronten erschöpft die Helden restlos.

Immer wieder verlieren Akteure aus heiterem Himmel ihren Job order werden in die Bedeutungslosigkeit recycelt. Am anderen Ende dieses Karrierebogens stehen jeweils Bewerbungsgespräche, in denen mit kunstvoll geschmiedeten Halbsätzen ein adäquates Arbeitsprofil zum aufgeschminkten Gesicht geschneidert werden soll.

Manche Figuren tauchen mehrmals in den Geschichten auf, ehe sie scheitern, anderen genügt ein einziger Abtritt, um die Sache zu beenden. Die einzelnen Geschichten greifen ineinander über, enden jäh, und gehen ein Stockwerk tiefer weiter, als hätte es nie ein Stiegenhaus dazwischen gegeben. So entsteht allmählich ein skurriler Roman der Arbeitswelt, in dessen Partikelfilter die Helden als Schmutz und Russ abgefangen werden

Margit Hahn erzählt unbarmherzig witzig, die Geschichten sind allesamt zum Totlachen, so wahr sind sie. Dabei hat die Autorin ein großes Herz für ihre kaputten Helden, denn als Leser ahnt man, wie brutal die Menschen vor die Hunde gehen würden, hätten sie nicht ein leichtes Rettungsnetz in Gestalt dieser Literatur. Gemessen an den hohlen Sätzen der Arbeitswelt zeigt sich elementar, wie wahr letztlich Sätze in der Literatur sind. Wahrscheinlich muss man die Arbeitswelt als große Fiktion begreifen, um sie zu überleben.

Margit Hahn, Totreden. Erzählungen.
Innsbruck: Skarabaeus 2006. 184 Seiten. EUR 19,90. ISBN 978-3-7082-3197-6

 

Weiterführender Link:
Skarabäus-Verlag: Margit Hahn, Totreden

 

Helmuth Schönauer, 01-05-2006

Bibliographie

AutorIn

Margit Hahn

Buchtitel

Totreden

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2006

Verlag

Skarabaeus

Seitenzahl

184

Preis in EUR

EUR 19,90

ISBN

978-3-7082-3197-6

Kurzbiographie AutorIn

Margit Hahn, geb. 1960, lebt in der Nähe von Wien.