andreas niedermann, alte schuleDer Dichter ist in die Berge abgehauen und gilt als verschollen, das Publikum ist ungeduldig, es hat zwei Bücher über schwere Helden-Entgleisung gelesen und will wissen, wie die Geschichte zu Ende geht. Die Heldin „Blumberg 3“ sitzt in der Psychiatrie und und bietet in hellen Momenten an, ihr kriminelles Leben fertig zu erzählen. – Eine ideale Ausgangsposition für einen Roman, als ein Verleger den erlösenden Schreibauftrag vergibt, um endlich alle von der Last der nicht-erzählten Geschichte zu erlösen.

Andreas Niedermann lässt das Konzept für seinen „Roman noir“ knapp durchschimmern als eingedampfte Literaturtheorie: „Bücher entstehen aus Büchern, Leben und Lügen.“ (86)

brane mozetic, banalien„Man hat mir nichts gegeben, was mir helfen würde zu existieren. Weder Glauben noch Hoffnung, um zu bereuen, zu bitten und erlöst zu werden.“ (45) Brane Mozetič gilt als der am meisten übersetzte slowenische Autor der Gegenwart, das hat mit seinen Themen zu tun, seiner Beharrlichkeit und der Ortsungebundenheit seiner Lyrik.

Seit zwei Jahrzehnten ist er mit seinen „Banalien“ in der Literatur unterwegs, die „Ur-Banalien“ erweckten bereits 2003 großen Furor, weil seine Gedichte zwar wie Texte aussehen, in Wirklichkeit aber Verfahrensweisen sind.

dominika meindl, selbe stadt, anderer planetWenn das gesellschaftliche Leben eine Inszenierung ist, muss dann nicht auch das Individuum sich selbst inszenieren? Macht es einen Unterschied, ob eine Fassade historisch gewachsen oder von einer KI gestaltet vor der Selfie-Kamera auftaucht? Ist ein absolutes System wie die Volksrepublik China vielleicht ähnlich organisiert wie die für den Tourismus ausgereizte Region rund um Hallstatt?

Dominika Meindl greift als Journalistin und Fiktionsmanagerin (= Autorin) auf den weltweit verbreiteten Plot zurück, wonach in China für einen Tourismus-Park das urtypische Kleinod Hallstatt nachgebaut worden ist. Andererseits findet im nahen Bad Ischl gerade eine kaiserliche Nachinszenierung des Habsburgermythos für das Projekt Kulturhauptstadt 2024 statt.

paul lendvai, über die heucheleiDer einzige Außenpolitiker von europäischem Rang, den Österreich momentan aufbieten kann, ist Paul Lendvai. Seit Jahrzehnten arbeitet er als Korrespondent, Journalist, Historiker und Verleger daran, die Unwissenden mit den Mächtigen in Verbindung zu bringen. Freilich hat sich etwas Glitschiges in die Nachrichtenwelt eingeschlichen: Was man früher diplomatisches Wirken genannt hat, lässt sich heute am besten mit „Heuchelei“ umschreiben.

„[…] möchte ich insbesondere die Rolle der Heuchelei, der Doppelmoral, der menschlichen und politischen Doppelzüngigkeit und Scheinheiligkeit bei den im Rückblick unverständlichen Handlungen und Erklärungen von Spitzenpolitikern behandeln.“ (9)

Allein schon seine Biographie macht Paul Lendvai zu einem wachen Beobachter der Konflikte in Europa. 1944 nach Ungarn verschleppt, überlebte er in Budapest, erhielt 1953 Berufsverbot und konnte schließlich 1957 nach Österreich fliehen. Seither ist er dessen Wissens-Botschafter in der politisch-journalistischen Welt.

christian kössler, schatten über dem innWer eine Stadt wirklich erkunden will, muss hinter die Fassaden der Häuserzeilen blicken. Während das Navi gute Dienste leistet beim Abschreiten der Objekte, braucht es für die Geister, die dahinter stecken, meist ein Archiv, worin die historischen Seelen gespeichert sind. Die Aufgabe eines Seelen-Erweckers besteht darin, die einzelnen Quellen ausfindig zu machen und ihnen den Stöpsel zu ziehen, um die flüchtigen Gespenster in die Gegenwart zu entlassen.

Christian Kössler hat als Bibliothekar einen sechsten Sinn für makabre, gruselige und hintersinnige Geschichten entwickelt. In regelmäßigen Abständen schreitet er diverse Archivregale ab, nimmt Sagenbücher und Quellen-Schwarten aus dem Regal und zieht den Büchern den Stöpsel. Dadurch entlässt er eingesperrte Geister und tritt mit ihnen anschließend vor einem fröhlichen Publikum auf.

robert kleindienst, das lied davonWenn jemand eine wortlose Kindheit erfahren hat, wie soll er später davon erzählen? Robert Kleindienst nimmt sich das Schicksal seines Vaters zu Herzen, der einst ziemlich wortlos im Tiroler Oberland bei einer Pflegefamilie aufgenommen und bald darauf in die berüchtigte Bubenburg im Zillertal gesteckt worden ist. Später in Salzburg ist er dann ein geschätzter Musiker geworden, der den Ton der Wortlosigkeit beim Publikum getroffen hat. Offensichtlich lässt sich die Sprachlosigkeit der Nachkriegszeit später mit Musik überwinden.

Der Roman „Das Lied davon“ ist vorerst eine späte Versöhnung des Herumgestoßenen mit der Tiroler Erziehungsluft. In seiner Behutsamkeit stellt er freilich auch ein Muster dar, wie man über eine schwere Kindheit erzählen könnte, ohne dass dabei die einzelnen Sätze zugespitzt abermals verletzend werden.

günter Zöller, geschichte der politischen philosophie„Der folgende Abriss der (westlichen) politischen Philosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung von der klassischen Antike über das christlich geprägte Mittelalter bis zur Neuzeit und zu den jüngeren und jüngsten Entwicklungen stellt repräsentative philosophische Positionen zu den Formen und Normen der politischen Gemeinschaft in den jeweiligen Kontext von Staat und Gesellschaft. Durch die Verbindung von politischer Philosophie mit politischer Geschichte soll das philosophische Denken in seinen Zeitbezügen erhellt werden …“ (S. 7)

Günter Zöller bietet einen umfangreichen Abriss in die Geschichte der politischen Philosophie des Abendlandes beginnend mit den wesentlichen Denkern der griechischen und römischen Antike über die Auseinandersetzung mit Herrschaft und Macht im christlichen Mittelalter über die Rückbesinnung auf die Antike in der Neuzeit bis hin zu philosophischen Entwicklungen neuer staatsrechtlicher Grundlagen und Stellungnahmen zu Staat, Freiheit des Bürgers und sozialer Gerechtigkeit in der Gegenwart.

kurt lanthaler, vorabbericht in sachen der zona cesariniEine Biographie wird umso genauer, je mehr Abschweifmöglichkeiten und Seitenthemen sich entlang des Heldencharakters entwickeln.

Kurt Lanthaler gilt als Meister der „Delta“-Beschreibung. Im Roman „Das Delta“ (2007) verliert sich ein Held im Zwielicht des Po-Deltas, feste Materie geht in Schlamm über, Lungenatmung weicht über Kiemen-Konstrukte aus, der Erzählfaden geht verloren, während sich Geschichten um einen schwimmenden Erzählstandpunkt versammeln.

Im „Vorabbericht in Sachen der Zona Cesarini“ bringt Kurt Lanthaler diese vage Erzähllage zur Perfektion, indem er zwischen Argentinien und Italien, den Zauberkünsten Zirkus und Fußball, und den fixen Heldenposen und entgleisten Fan-Gesten einen „Vorbericht“ installiert. Das Genre Roman lässt er dabei nur gelten, wenn es „hinten offen bleibt“, wie man so schön über das literarisierte Leben sagt.

willem elsschot, tschipSelbst ein Klassiker muss ununterbrochen gepflegt und gegen das Vergessen gebürstet werden. Aufwändig wird diese Pflege, wenn es dazu einer Übersetzung bedarf, die den Ansprüchen von Zeitgeist und Sprachentwicklung entspricht.

Die Leipziger Buchmesse 2024 mit dem Schwerpunkt Niederlande und belgisches Flandern lässt allenthalben die Frage hochkommen: Wer sind die großen Drei der belgischen Literatur? Die Antwort schickt einen sofort an die Regale, um diese zu durchkämmen auf der Suche nach Georges Simenon, Hugo Claus und Willem Elsschot.

„Tschip“ ist ein schmaler Klassiker der grotesken Unterhaltungsliteratur aus dem Jahre 1934. Ein gutsituierter Erzähler beschließt nach jeder Dienstreise hinaus in die weite Welt, zu Hause in Antwerpen sesshaft zu werden und sich für ewig in seinem Haus-Büro einzurichten. Als er sich wieder einmal zu Hause ausstreckt, wird er von einer seltsamen Störung des Hausfriedens heimgesucht.

franzobel, einwürfeLiteratur ist Fußball und Fußball ist Literatur. - Diese simple Gleichung, die seinerzeit der Wunder-Germanist Wendelin Schmidt-Dengler formuliert und über sämtliche Alltagsmedien verbreitet hat, ist Kern einer Theorie geworden, der sich eine ganze Generation von österreichischen Schriftstellernden verpflichtet fühlt. Plastischer Ausdruck dafür ist die Gründung des österreichischen Autorenfußballteams, das schreibend in professionellen Trikots auftritt und neben Autogrammen auch literarische Texte schreibt.

Franzobel ist in Theorie, Arbeitsleistung und Können wahrscheinlich der Spitzenmann dieser Doppelkultur Fußball-Literatur. Gekonnt nennt er seine Sportkolumnen „Einwürfe“ und bringt diese tatsächlich jeweils in den passenden Strafraum, der sich im konkreten Fall als Kulturseite der Kleinen Zeitung Graz erweist, von wo aus zum eleganten Torschuss angesetzt werden kann.