Eleonore Weber, Landkarte im Maßstab 1:1
Die größte Glaubwürdigkeit über die Verfasstheit einer Botschaft, Nachricht oder Erzählung erweckt die Zauberformel 1: 1. Nicht nur vor Gericht erweckt eine Aussage große Authentizität, wenn sie angeblich im Maßstab 1:1 wiedergegeben wird, auch in der Weltliteratur erreicht die Glaubwürdigkeit beim Erzählen ihren Peak, als Jorges Luis Borges von einer Landkarte 1:1 spricht, die durch ihre Maßzahl an Genauigkeit nicht übertroffen werden kann. Von dieser Überlegung leitet sich auch die These ab, dass die ideale Bibliothek eins zu eins der Welt entsprechen müsse, um sie abzubilden.
Eleonore Weber erweitert diesen Gedankengang mit ihrer Sammlung von zwölf Geschichten, die diesem magischen 1:1 unterworfen sind. Eine ideale Erzählung gleicht daher in ihrer Dauer dem erzählten Stoff, eine darin eingewobene ideale Zeichnung entspricht in Größe und Schraffur dem abgezeichneten Original, und auf der Netzhaut sollten Land und Karte den gleichen Reiz für das Gehirn auslösen.
„Die Landkarte im Maßstab 1:1“ wird in drei Mappen ausgelegt, zuerst sind es die zwölf Texte im deutschen Original, dann die „identischen“ Übersetzungen auf Englisch, und schließlich die ineinander gespiegelten „open readings“, worin die Lektüre in der Methode von Chat GPT (281) ausgerollt wird.
In dieser Konstellation lässt sich schon nach einem ersten Scannen der Texte nicht mehr feststellen, was Original, Übersetzung und spontane Realisation einer Welt als Prompt ist.
Die erste Geschichte nennt sich wie das Projekt 1:1 und ist quasi die Ur-Erzählung für ein Dutzend Ableitungen, die daraus folgen. Herausgestrichen sind drei sogenannte Hauptsätze, wie sie beispielsweise in der Wärmelehre ein in sich schlüssiges System vorgeben.
„Was nicht geteilt wird, bleibt nicht. Erster Hauptsatz. // Das Tastbare ist antastbar. Zweiter Hauptsatz. // Du stehst. Auf. // Ich stehe. Auf. Dritter Hauptsatz.“
Unter diesen Richtlinien lässt sich eine Beschreibung der Welt im idealen Maßstab verwirklichen. Solidarität, Fragilität und Resilienz zeigen sich als die drei Grundbegriffe, mit denen man Revolutionen anzetteln, ein Bild entwerfen oder eine Tagesnotiz hinlegen kann nach dem dritten Hauptsatz: "Ich stehe. Auf“ – die wahrscheinlich beste Methode, das künstlerische Tagwerk zu beginnen.
Zwischen den Hauptsätzen ist viel Textmasse als Spiel angelegt, dieses zeigt sich zwischendurch als Stimmen im Ohr, ehe die Metaebene zum Zug kommt und der Kopf zum Meer wird.
In der Sequenz von den „blühenden Wiesen“ geht es anschließend darum, ein Bild aus der Kindheit zu gestalten und vor allem es einzurahmen, ohne dass es begrenzt wird. Das ideale Pflaster zum Aufstellen eines standfesten Stativs ist die Veranda, auf der man sich am besten gleich selbst als Installation mit dem eigenen Körper ausbreitet. Anschließend empfiehlt sich ein Blick in die Höhe, ehe man aus sich selbst eine Drohne aufsteigen lässt, um die Draufsicht mit mobilem Objektiv zu vervollkommnen.
Das viel besuchte und besungene Venedig-Motiv entfaltet die Originalgröße, indem man die Stadt als Reise an deren festen Kern beschreibt. Mestre eignet sich gut zum Einrammen einer Staffelei, die Anreise mit dem Zug verschafft dem Subjekt jene öffentliche Erregung, die nach Intimität schreit. Und tatsächlich schält sich aus dem weichen Teil der Stadt eine Liebesgeschichte heraus, die ihr Ende findet, als sich der Lover Federico am Bahnhof für eine Abschiedsszene hergibt, dabei wird alles im Originalmaßstab vermessen.
Wenn es um Größe, Frame, Motiv und Authentizität geht, ist die Kunst der Bildbeschreibung seit Jahrhunderten gefragt, nie ist diese Kunst abgeschlossen, ständig wird sie mit neuen Motiven gefüttert, weil die alten ausgestorben sind wie beispielsweise die Kombination Ameise und Grille. (45)
In fünf archaischen Musterbeschreibungen werden Bilder im Kopf entworfen und später auf Papier abgebildet. Die Stadt „Haag“, der Dichter „Proust“, der Linzer Stadtteil „Ur fahr“ als Zustand, das Bild „Ameise und Grille“ als Kernzone, das Bild „Ko operation“ als medizinisch-sozialer Eingriff. – Diese fünf Bildbeschreibungen können auch als Muster für biographische Jahreszeiten gelesen werden, Kindheit, Schule, Wohnen, Reisen, Altwerden.
In Spezialthemen aus der Welt der Galerie, des Theaters oder Lernpädagogik lassen sich poetische Aufsätze herausfiltern, die mit einem Fachblick dem Maßstab 1:1 gerecht zu werden versuchen. Ein schwebendes Lächeln (63) führt das Ich hinaus auf eine Bühne, die sich als Weltbühne zeigt. Die „Leningrader Hängung“ (79) rekurriert auf die Hänge-Ästhetik der Bilder in der Eremitage. In „callback (87) wird ein Projekt vorgestellt, wonach jeden Tag ein Gedicht entstehen soll. An die Grenzen gelangt dieser Versuch, als plötzlich das halbe Bild von einem halben Hund realisiert werden soll, und noch dazu mit Poesie.
„Was nicht gelehrt und gelernt werden kann“ (149) führt die Projekt-Lesenden im Wittgensteinschen Sinne an die Grenzen der Sprache und und somit der Zeichnung. Selbst die ideale Landkarte, komponiert aus Wünschen, Erinnerung und Gestaltungswillen ist endlich und gelangt somit an Grenzen.
Eleonore Weber bringt die gängigen Erzählmethoden zuerst ins Spiel und dann auf den Prüfstand. In der Kluft zwischen beidem wird der Zufall poetisch kalibriert.
Eleonore Weber, Landkarte im Maßstab 1:1. texte, skizzen, übersetzungen, 15 farbige Zeichnungen
Wien: edition fabrik.transit 2024, 329 Seiten, 24,00 €, ISBN 978-3-903267-65-7
Weiterführende Links:
edition fabrik.transit:, Landkarte im Maßstab 1:1
Homepage: Eleonore Weber
Helmuth Schönauer, 27-07-2024