Jürg Amann, Zimmer zum Hof

Buch-CoverManche Buchtitel schleichen sich wie ein Ohrwurm in den Kopf und man kann dann erst wieder geordnet weiter leben, wenn man das Buch gelesen hat. Der Titel des neuen Erzählbandes von Jürg Amann weckt natürlich Erinnerungen an den Film „Das Fenster zum Hof“ (Alfred Hitchcock, 1954). Und tatsächlich hat der verfilmte Schrecken im Hinterhof auch Eingang in den Suspense der Titelerzählung gefunden.

In Jürg Amanns Geschichte vom „Zimmer zum Hof“ steigt ein Kongressbesucher in einem billigen Quartier ab, wie eben sonst jeden Tag tausende Dichter in ihren Lesequartieren absteigen, wenn sie ihre Vortragstätigkeit beendet haben.

Halb zischt noch die fiktionale Welt seines eigenen Vortrags durch den Kopf, halb dämmert das düstere Licht des Hinterhofs ins Zimmer, und zwischendurch gibt es dieses Hüsteln von nebenan, ziemlich erbärmlich und erotisch. Beim Frühstück versucht sich der Kongressgast das Hüsteln zur passenden Figur vorzustellen. Eine hohlbrüstige Frau kommt dieser Vorstellung sehr nahe, aber wie so oft ist alles ganz anders.

In dieser Erzählung laufen die Geländelinien der Amannschen Erzählkunst wunderbar zusammen. Die Welt zeigt sich oft von der Hinterseite, der Dichter malt sich die Kargheit der Wahrnehmung mit Fragmenten von Sinnlichkeit aus, Erotik wird zu einem fast pingeligen Hüsteln, das an das Aufklappen eines Schweizermessers erinnert, die Zeit wird träg und kostbar, indem sie einfach ungebremst in sich selbst zusammenfällt, die Luft flockt stickig aus wie eben in einem Zimmer zum Hof.

Jürg Amanns Erzählungen gehen oft auf aktuelle Tagesereignisse zurück und werden durch die literarische Veredelung zu einem zeitlosen Ereignis. Dabei können die Ereignisse von öffentlicher Bedeutung sein, wie etwa beim Einsturz des World Trade Centers („Im Turm“), oder auch von singulärer Bedeutung höchster Individualität, wenn etwa ein Ehemann aufwacht und sich mit Schrecken an den Orgasmus erinnert, den er so eben geträumt hat („Die Traumfrau“).

Die Beziehungen zwischen Mann und Frau sind dabei fast immer sonderbar, wenn nicht gar leicht übergeschnappt. So rätselt ein Schriftsteller über Jahre, wer ihm da wohl anonyme Anbahnungsbriefe schreibt, zumal ja nicht klar ist, ob der literarische oder der körperliche Teil des Schriftstellers verführt werden soll („Ein paar Briefe“).

In der Erzählung „Rollstuhlstück“ verliert sich gar ein verflossener Liebhaber in seiner eigenen Rührung, indem er den leeren Rollstuhl seiner verstorbenen Frau vor sich herschiebt.

Etwas augenzwinkernd kann man über diese Amannschen Figuren immer wieder lachen, denn letztlich kommen sie nie halbwegs normal zu einander, immer verlieren sie sich aus dem Auge, werden müde miteinander oder verlassen einander in Träumen oder Rollstühlen. Erotik hat offensichtlich bloß den einen Sinn, dass man ihr vergeblich hinter her hechelt wie ein Hund der berühmten Wurst, nur dass in diesem Falle die Wurst müde wird, nicht der Hund.

Jürg Amann, Zimmer zum Hof. Erzählungen.
Innsbruck: Haymon 2006. 79 Seiten. 14,90 €, ISBN 978-3-85218-511-8

 

Weiterführende Links:
Haymon-Verlag: Jürg Amann, Zimmer zum Hof
Wikipedia: Jürg Amann

 

Helmuth Schönauer, 13-09-2006

Bibliographie

AutorIn

Jürg Amann

Buchtitel

Zimmer zum Hof

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2006

Verlag

Haymon

Seitenzahl

79

Preis in EUR

14,90

ISBN

978-3-85218-511-8

Kurzbiographie AutorIn

Jürg Amann, geb. 1947 in Winterthur, lebt in Zürich.

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