ludwig roman fleischer, anamnesenDie beiden wichtigsten literarischen Genres in Österreich sind Amnesie und Anamnese. Im einen Fall wird alles ausgeblendet, was das Wohlbefinden stört, im andern Fall alles geadelt, was zu einer Krankheit führt. So sind im öffentlichen Bereich die Krankengeschichten stärker verbreitet als andernorts die Kriminalgeschichten.

Ludwig Roman Fleischer fischt seine Helden aus einem Berg von Krankengeschichten, verstörenden Befunden und schön geredeten Desastern heraus, wobei er unter Anamnese nicht nur die Vorerkrankungen einer heldenhaften Person versteht, sondern auch die Krankengeschichte eines Landes, einer Gesellschaft, ja der Geschichte überhaupt. Im Sinne der Erzählung „Amras“ von Thomas Bernhard ist Geschichte nämlich Krankheit.

In zwanzig Geschichten vom Kranksein kommt allmählich eine Gesamt-Anamnese heraus, die ob ihrer Groteske jeden zum Schmunzeln bringt, der diese Befunde in die Finger kriegt. Die ausgewählten Krankengeschichten reichen in ihrer Entstehung bis an die Jahrtausendwende zurück und zeigen daher beinahe im Jahresrhythmus, wie krank die Gesellschaft ist. Oder im Volksmund formuliert: Irgendwer ist immer krank!

mario hladicz, tag mit motteGedichte sind unter anderem dazu da, die Zeit anzuhalten und die darin aufgestapelten Vorgänge einzumotten. Gedichte sind die idealen Mottenkugeln, heißt es in einer gängigen Anleitung für Alltagslyrik.

Mario Hladicz greift diese Theorie auf, und überschreibt seine Gedichte mit „Tag mit Motte“. Darin ist subsumiert, dass in den Gedichten der Ablauf der Zeit angehalten und für die Konservierung tauglich gemacht wird. Dass dann die Gedichte wie Motten unerwartet aus dem Depot fliegen, ist beabsichtigter Kollateralschaden.

„Tag mit Motte // Es ist nämlich so erst passiert wenig bis / nichts so bis um sieben halb acht dann / flattert sie an mir vorbei und malt mit / jedem Flügelschlag das Fenster aus mit / Licht das macht das Aufstehen erträglich“ (50)

alfred paul schmidt, fernwehFernweh irritiert in der Literatur die Helden doppelt. Zum einen können sie keinen klaren Gedanken mehr fassen, weil sie mit ihrer Sehnsucht schon weit weg sind, zum anderen wird die Realität bedrückend, weil sie als unmittelbare Umgebung das Gegenteil von Fernweh ist.

Alfred Paul Schmidt installiert rund um den magischen Titel „Fernweh“ seinen Flanierroman, worin die Helden während einer Pandemie aus den diversen Verhaltensvorschriften ausbrechen und sich eine eigene Welt schaffen.

„Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen ist das Sinnieren über einen Gegenstand, während im Fernsehen irgendwas läuft.“ (57) Und an anderer Stelle kommt die Erkenntnis zum Vorschein: „Dieses Pendeln zwischen einer gedachten und einer wirklichen Wirklichkeit ist offenbar ein zentrales Vergnügen unseres Bewusstseins.“ (132)

jonathan haidt, generation angst„Generation Angst ist ein Buch, in dem es darum geht, wie wir das menschliche Leben für Menschen aller Generationen zurückerobern können.“

Das Buch „Generation Angst“ von Jonathan Haidt beleuchtet die Verschlechterung der psychischen Gesundheit von Jugendlichen. Haidt, Sozial- und Moralpsychologe, sucht nach den Ursachen und sieht die Gründe vor allem in einer überbehüteten Kindheit und dem zunehmenden Einfluss von Smartphones, Social Media und der Selfie-Kultur. Diese technologischen Entwicklungen hätten das Leben junger Menschen massiv verändert und zu einem Anstieg von Angststörungen, Depressionen und Selbstverletzungen geführt. Haidt untermauert seine Thesen mit internationalen Studien, Statistiken und Grafiken, die den globalen Charakter des Problems aufzeigen.

barbara köhler, schriftstellen„Ihre Bücher sind Skulpturen und Depots zugleich.“ (238) SCHRIFTSTELLEN ist ein komprimierter Nachruf, bestehend aus verdichtetem Werküberblick, Biographie sowie Beschreibung der wichtigsten Thesen.

Barbara Köhler erfährt eine bemerkenswerte „Künstlerin-Erweckung“, als sie in der DDR mit den Phänomenen Zensur und Parteiprogramm konfrontiert wird, noch ehe sie eine Zeile geschrieben hat. Das Ausüben der Kunst ist vom ersten Augenblick an mit ihrem Verbergen verknüpft, nur so lässt sich an ungesicherten Stellen des Systems Literatur unterbringen und mit Sprengkraft versehen, wie bei jenem Eis, das bei Kälte die Felsen sprengt, in den es bei Wärme eingedrungen ist.

peter music, professor punk-rockIn einem wahnwitzigen Bildungsroman des Genres „Pop pumpkin“ reflektiert ein Punk-Rock-Professor darüber, wie man zum Sinn des Lebens kommt, und ob es sich lohnt, diese Einstellung an Jugendliche weiterzugeben.

Peter Music schickt seinen Helden Professor Punk-Rock zu Silvester in eine veritable Sinnkrise, aus der er nur mit einer Radikalkur herauskommt. Als er wegen Schul-Insuffizienz an der primitiven Fähigkeit scheitert, die erste Stunde im neuen Jahr mit kaputtem Schädel abzuwickeln, versucht er den Kids zu erklären, wie es zu diesem Desaster gekommen ist. Diese aber zeigen wenig Empathie für das Schicksal ihres Professors, haben sie doch selbst genug Selfie-Programme am Laufen. So bleibt dem alten Kerl nichts Anderes übrig, als einen Psychotrip für mittlere Lebenslagen anzutreten.

sun longji, das ummauerte ich„Das ummauerte Ich“ lautet der Kerntitel dieses Buches, das das Psychogramm der chinesischen Denk- und Verhaltensstruktur zu entschlüsseln sucht. Es befasst sich – wie der Untertitel verdeutlicht – mit der „Tiefenstruktur der chinesischen Mentalität“. Der Begriff der Tiefenstruktur kennzeichnet die Entwicklung eines Individuums sowie die (unbewusste) Verinnerlichung sozialer Normen und Regeln durch eine Person bzw. eine Gruppe, die das Denken und Verhalten steuern.“ (S. 12)

Sun analysiert die Verhaltensweisen und die chinesische Mentalität aus einer tiefenpsychologisch geprägten Perspektive, die stark von Sigmund Freud beeinflusst ist. Dabei weist er der Bedeutung der „Mauer“ als Metapher für die Auseinandersetzung mit dem chinesischen Verhalten im politischen und sozialen Leben in China eine zentrale Rolle zu.

ilse kilic, fritz widhalm - chronik der kleinen gedankenFalsch ist immer möglich. – Diese Nebenwirkung einer „Chronik der kleinen Gedanken“ ist auf der Hinterseite des Buchumschlags abgedruckt, während einem vorne zwei übereinandergelegte Augen entgegen zwinkern, offensichtlich als erhellender Tandem-Blick des Autorenpaars eingefangen. Ilse Kilic und Fritz Widhalm stellen sich mit ihren „Fußnoten zur Weltgeschichte“ zwischen alle gängigen Genres, das Thema ist ihre eigene Biographie im Lichte des Weltgeschehens.

Als Hintergrund dieses Unterfangens summt ein Ohrwurm sich selbst zur Melodie „Tanz mit mir in den Himmel hinein.“ Der Schlussrefrain erklärt das Phänomen der Weltchronik: „Schlussatz: / Ilse und ich sind kein Paar, / Ilse und ich sind ein Tanz.“ (69)

kirstin breitenfellner, gedichte ohne dichÜblicherweise entstehen Gedichte rund um das lyrische Ich herum. Was aber nun, wenn dieses Ich sich aus dem Rennen nimmt, verschüttet wird oder sonst wie verlorengeht? Und was lässt sich über das lyrische Vakuum sagen, das bei Gedichten „ohne ich“ entsteht?

Kirstin Breitenfellner arrangiert in zehn Kapiteln diverse lyrische Versuchsanordnungen, um der „Ich-Entnahme“ im poetischen Kontext auf die Schliche zu kommen. Dabei wird die bewährte Form des Sonetts gewählt, sie dient als verlässliches Gefäß für diverse lyrische Reaktionen und Eruptionen.

In der Eingangssequenz werden daher dem Ich noch einmal allerhand Kräfte, Ambitionen und Reflexionen zugesprochen. In der ersten Strophe kommt dem Ich die Kompetenz zu, die Welt zu erschaffen.

klaus ebner, fünfzigAm Morgen wacht der Erzähler auf wie der Käfer in der Verwandlung von Franz Kafka und stellt fest, dass sein Körper fünfzig Jahresringe hat. Heute sollen Geburtstagsfeiern losgehen, aber der Held ist wie gelähmt von seinem eigenen Leben und bleibt regungslos liegen, während sein Gehirn fünfzig Jahre abarbeitet. Klaus Ebner findet einen makabren Zugang, ein halbes Jahrhundert „Eigenleben“ als historisches Gesellschaftsgemälde gespiegelt im kleinen Einzelkopf originär darzustellen.

In fünfzig Erzähl- und Erinnerungsschüben geht der Ich-Erzähler ein Leben durch, das wahrscheinlich seines ist. Aber was ist schon ein echtes Leben, wenn man von sich selbst sagt: „Ich denke es mir aus.“ (189)