Alfred Paul Schmidt, Fernweh

alfred paul schmidt, fernwehFernweh irritiert in der Literatur die Helden doppelt. Zum einen können sie keinen klaren Gedanken mehr fassen, weil sie mit ihrer Sehnsucht schon weit weg sind, zum anderen wird die Realität bedrückend, weil sie als unmittelbare Umgebung das Gegenteil von Fernweh ist.

Alfred Paul Schmidt installiert rund um den magischen Titel „Fernweh“ seinen Flanierroman, worin die Helden während einer Pandemie aus den diversen Verhaltensvorschriften ausbrechen und sich eine eigene Welt schaffen.

„Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen ist das Sinnieren über einen Gegenstand, während im Fernsehen irgendwas läuft.“ (57) Und an anderer Stelle kommt die Erkenntnis zum Vorschein: „Dieses Pendeln zwischen einer gedachten und einer wirklichen Wirklichkeit ist offenbar ein zentrales Vergnügen unseres Bewusstseins.“ (132)

Die Sätze sind nicht zwingend an Romanfiguren gebunden, die sie aussprechen sollen, die Erkenntnisse und Thesen liegen vielmehr frei herum wie in einer Spazier-Schütte, aus der man sich gute Sätze herausfischen kann.

Der Plot kreist um eine Ich-Erzählerin, vierzig Jahre alt, die sich zwischendurch in ein grünes Kleid wirft und sich selbst zum Letscho einlädt, das sie gerade gekocht hat. (30) Ihr Widerpart ist ein gewisser Andreas Kelberg, der artig Herr K. genannt wird wie bei Kafka, und der der Erzählerin ein paar Mal beim Flanieren über den Weg läuft. Nicht nur die Sätze dürfen frei gefischt werden, auch die Schicksale der Helden unterliegen dem Zufallsprinzip. So soll Herr K. mit einem Hotel pleite gemacht haben, was geglaubt werden kann oder nicht.

Die einzige Instanz für Glaubwürdigkeit ist ohnehin die Erzählung selbst. Auch sie ist unterwegs und bedient sich an diversen Plots, Schicksalen und Thesen, sie hat freilich ein strenges Motto: Die Erzählung weiß selbst am besten, was ihr gut tut.

So gerät die Erzählerin zu Beginn in eine „Reichen-Sackgasse“, die von einem verwöhnten Wohnviertel umgeben ist. Darin ist gerade ein Betuchter gestorben und somit seines Vermögens entledigt worden. Eine Erlösung, räsoniert die Erzählerin, denn Reichtum ist anstrengend und muss wie im Spitzensport ständig gegen die Konkurrenz verteidigt werden.

An diesen Gedankengang schließt die Meditation über den „schönen Grasser“ an, von dessen Verurteilung die Medien fromm berichten, während bei den Lesenden dieser Nachricht Häme aufkommt.

An einer anderen Ecke des Spaziergebiets winkt ihr ein gewisser Louis entgegen und spricht ständig von Ahoi, er bespielt nämlich die Wohnanlage wie ein Kreuzfahrtschiff.

Diverse Sendepartikel, die sich während eines Fernsehabends im Unterbewusstsein eingenistet haben, drängen bei Tageslicht an die Oberfläche des Alltags und zeigen sich als Maskenvorfall im Bus, als Installation während einer Vernissage, Interpretation eines Gewalt-Gemäldes oder Entschlüsselung eines Kriminalfalls.

Man sollte Straßen durchaus nach den Verbrechen benennen, die darin geschehen sind, dann könnte man die Erinnerung daran leichter am Leben erhalten und sich besser im Stadtplan orientieren.

In die Flanier-Saga voller beobachteter Kleinodien und Petitessen ist ab der Hälfte des Romans noch ein zusätzlicher Gedankenstrang eingeflochten, der als „der rote Faden des Ungewissen“ ausgegeben wird. Diese Untergrundgeschichte spielt womöglich im Jahr 2191, wir wissen aber nicht, in welcher Zeitrechnung, sodass es sich durchaus um eine andersrum erzählte Gegenwart handeln könnte.

Eine blasse Frau taucht jäh in den Gesichtskreis von Karl Augustin, der gerade von seiner Ehepartnerin verlassen worden ist. Diese Frau bittet darum, als Tivoli angesprochen zu werden, denn ihr Tun ist voller Kunst und Freiheit wie sie in Freizeitparks gepflegt werden.

Tivoli und Karl bereden ab nun die gesamte Kunstwelt und bereisen sie mit ihren Worten. Dabei kommt es zu einem forensischen Kunst-Experiment. Zu einem Mörder wird Kontakt aufgenommen, um das Wesen der Krimis als Massenware zu ergründen. Nach dem Experiment wird aus dem Mörder ein Selbstmörder, wie es oft oberflächlich süffisant erzählt wird.

Allmählich gehen Gespräche, Spaziergänge und Kunststraßen in einen Fluxus über, benannt nach jener Kunstrichtung, bei der es nicht auf das Kunstwerk, sondern auf die Kunstidee drauf ankommt.

Solcherart zu Kunst transformiert lösten sich die Figuren in sich selbst auf. Die Intention von „Fernweh“ ist den Helden vage bekannt. „Es geht um die Befreiung des Menschen von seinem Schicksal.“ Tivoli hat das letzte Wort und sagt einen Satz voller Aufbruchsstimmung: „Was kann der Zukunft bei der Dauer, die sie noch vor sich hat, Besseres an Glück gegeben werden?“

Alfred Paul Schmidt vagabundiert mit seinen Helden durch das weite Land an Zufälligkeiten, die kurz an Bedeutung gewinnen, wenn man sie mit großem Gestus ausstattet. An einer versteckten Stelle im Roman sitzen drei Raben im Park und lassen sich nicht anfüttern, weil sie bereits ein Kunstwerk sind. So lässt sich auch der Roman Fernweh nicht mit Erklärungen anfüttern, weil er bereits selbst zum unerklärbaren Kunstwerk geworden ist.

Alfred Paul Schmidt, Fernweh. Roman
Graz: edition keiper 2023, 214 Seiten, 24,00 €, ISBN 978-3-903322-97-4

 

Weiterführende Links:
Edition Keiper: Alfred Paul Schmidt, Fernweh
Wikipedia: Alfred Paul Schmidt

 

Helmuth Schönauer, 12-06-2024

Bibliographie

AutorIn

Alfred Paul Schmidt

Buchtitel

Fernweh

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2023

Verlag

Edition Keiper

Seitenzahl

214

Preis in EUR

24,00

ISBN

978-3-903322-97-4

Kurzbiographie AutorIn

Alfred Paul Schmidt, geb. 1941 in Wien, lebt in Graz.