peter hofinger, seelenabwasserWenn die Blase versagt, beginnt die Literatur erst richtig zu wirken. – Die Kraft der Literatur steckt zwischendurch darin, dass sie Grenzgängerin ist und regelmäßig jenen Schubladen entsteigt, in die man sie zu jeder Epoche aus pragmatisch-pädagogischen Gründen einlagert.

Peter Hofinger wählt mit seiner „Selbstbeschreibung der Kindheit“ eine Erzählform, die Elemente der Zeitgeschichte und der pädagogischen Vertuschung mit den Mitteln der seufzenden Autobiographie und transzendenten Bewusstseinserweiterung durch Esoterik bedient. Kraftvolle Literatur hat meist einen Anlass, und ihr Segen besteht darin, dass sie diesen Anlass überwindet.

stefan verra, köpersprache gendert nichtWie weit darf ich als Mann im Bus die Beine spreizen, ehe ich von Mitfahrenden wegen sexueller Belästigung angezeigt werde? – Diese Frage ist nicht so sehr wegen des Inhalts bemerkenswert, sondern wegen der Überlegung, wer sie beantworten könnte.

Stefan Verra ist die erste Adresse, wenn es um Kunst, Kommunikation und politische Strategie rund um den Körper geht. Die sogenannte „Körpersprache“ ist nämlich älter als die gesprochenen Sprachen, daher ist sie mehr oder weniger überall verständlich, noch ehe jemand den Mund aufgemacht hat.

tomaz salamun, steine aus dem himmelGedichte sind das Ringen um das, was Gedichte sind. Dabei sind diese vielleicht nur Steine aus dem Himmel.

Tomaž Šalamun ringt ein Leben lang um diese logischen Fügungen, die in einfachen Sätzen darstellen, was niemals einfach gesagt werden darf. Verwegen schickt er sein lyrisches Ich zwischen die Zeilen, um Unruhe durch Einfachheit auszulösen.

simon konttas, trautes heimNichts ist literarisch so schwer zu handeln wie das, was alltäglich auf dem Erlebnis-Teller liegt und als normal gilt. „Das traute Heim“ streckt als pure Formulierung sofort die semantischen Greifarme aus und lullt jene ein, die an der Oberfläche dieses Bildes bleiben.

Simon Konntas nennt seinen raffinierten Roman über die Glücksvorstellungen einer angehenden Malerin ungeschützt „Trautes Heim“. Damit spricht er die Lesenden unverblümt an, damit sie selbst die Glücksvorstellungen abrufen, die sich seit Kindheitstagen in der Spielecke der schönen Seele aufgestaut haben, ehe er mit einem schlichten Plot die gängigen Muster aus dem Lot bringt.

jörg zemmler, wir wussten nicht warumWahnsinnigen wird oft der Seufzer nachgerufen: Denn sie wissen nicht, was sie tun. Dabei wissen diese bloß nicht, warum. Jörg Zemmler lässt ein „wahnsinniges Wir“ in seinen Gedichten auftreten. Selbstbewusst kommen Figuren und Fügungen zur Geltung, die es vor allem mit der Liebe haben. Der Untertitel präzisiert es: „Nur Zweifel gab es keine.“ – Hier sind vielleicht Missionarische am Werk.

Man liegt als Lesender nie falsch, wenn man einen Lyrikband vor dem Lesen durchzappen lässt wie ein Daumenkino. Die rasch vorüberzischende Textur offenbart dabei einen ersten Eindruck, ob etwas kompakt, fragil oder erschlagend ist.

evelyn andergassen, atlantikpassageEinen Südtirol-Roman erkennt man ohne Zweifel daran, dass im ersten Absatz jemand auf Italienisch einen Kaffee bestellt. Mit dem simplen Ausruf „Espresso“ oder „Cappuccino“ ist dann klargestellt, dass die Zweisprachigkeit längst selbstverständlich geworden ist und Bozen, was die Multikultur betrifft, es locker mit der EU-Hauptstadt Brüssel aufnehmen kann.

Evelyn Andergassen lockt die Leser also mit dem beherzten Ausruf „Cappuccino“ in den Roman, und solcherart eingespeichelt werden wahrscheinlich manche zuerst selbst etwas trinken, ehe es in den Roman „Atlantikpassage“ hineingeht.

sirka elspaß, ich föhne mir meine wimpernDer stärkste Satz eines Gedichtbandes ist meist der Titel. Nicht nur dass er im Bibliothekswesen ständig zitiert wird, denn die Ordnung in der Bibliothek geschieht durch Zitieren, oft drängt sich so ein Titel auch ins Langzeitgedächtnis vor und nistet als Gassenhauer.

Sirka Elspaß überschreibt ihren Gedichtband mit dem fröhlichen Selbstkommentar „ich föhne mir meine wimpern“. Darin ist mustergültig zum Ausdruck gebracht, was Lyrik an einem unauffälligen Tag auszulösen vermag. Es geht um den „lyrischen Höhepunkt“, an dem der berüchtigte Vogelschnabel das Ei durchstößt, oder ein Airbag aufgeht, um eine Lenker-Biographie zu verändern.

friedrich hahn, Jegliche Personen, jegliche Ähnlichkeiten und jegliche HandlungIn den meisten Romanen werden kunstvoll Karrieren, Biographien oder Geschichten für das beruhigte Einschlafen konzipiert, damit sich die Leserschaft an Traumbildern hinaustasten kann aus dem Tagwerk des Alltags.

Friedrich Hahn könnte man als Meister der Dekonstruktion von Biographien bezeichnen, sein erzählerisches Augenmerk gilt den Sprüngen, die verlässlich die Karrieren seiner Protagonisten heimsuchen, sein Schwerpunkt ist so etwas wie das Leben im Ausgedinge. „Das ganze Dorf ist im Modus des Ausgedinges“, (105) heißt es über das Waldviertel, wo die ehemals Ausgewanderten zum Sterben heimkommen oder zum Verkauf ihrer Häuser an die städtischen Makler.

alexei salnikow, petrow hat fieberUnschuldig lesen war einmal, heutzutage gilt es, zuerst die politische Haltung abzutasten, ehe man sich an ein Buch wagen darf. Besonders heikel sind momentan Romane, die irgendwas mit dem „zweiten putinschen Krieg“ (2022) zu tun haben.

Alexei Salnikows Roman „Petrow hat Fieber“ aus dem Jahr 2016 spielt im Russland der Vorkriegszeit, handelt vom Delirium der postsowjetischen Gesellschaft in den Nullerjahren und ist als russischer Text stark ausgrenzungsgefährdet. Die Sache wird ein wenig erleichtert, da der Autor zwar in Jekaterinburg gewirkt hat und dort auch den Roman spielen lässt, aber selbst im heutigen Estland geboren ist, was ihm euro-baltische Sympathien entgegenbringt.

jörg reinhardt, zeitlupenwegeWenn etwas für wichtig gehalten wird und eine Szene für die Wahrheitsfindung enträtselt werden soll, ist die Zeitlupe seit den Anfängen des Films eine gute Methode, der Erkenntnis auf die Sprünge zu helfen. Das gilt für forensische Abläufe oder Schadensmeldungen genauso wie für Lyrik, wo ja auch der pure Ablauf der Zeit in Poesie verwandelt werden kann, indem man eine Story verlangsamt oder eine Sequenz herunterfährt bis nahe an ein Standbild.

Jörg Reinhardt umschreibt das programmatische Gedicht zu diesem Vorgang mit „Zeitlupenwege“ (157), am Cover ist dieser Begriff zudem zu einem Dreizeiler aufgerüstet: Zeit Lupen Wege. In diesem Begriffsgedicht laufen Chronik, Dimension und Distanz zu einer Kürzest-Theorie zusammen, die einen Text vom Ersteintrag als Notiz an bis hin zu einem epischen Langgedicht betreut.