elyas jamalzadeh, freitag ist ein guter tag zum flüchtenLesen ist für die meisten so selbstverständlich wie Nicht-lesen, es ist in der Öffentlichkeit vorhanden wie das Radfahren oder Fußgehen. Und nur wenn man es gezielt thematisiert, überlegen die Angesprochenen, dass sie vielleicht wieder einmal ein Buch durchblättern könnten.

Die Stadt Innsbruck spricht unverdrossen seit Jahren ihre Insassen auf das Lesen an, verweist dabei auf eine gut funktionierende Stadtbibliothek und verschenkt 10.000 Bücher, die für Aufmerksamkeit, aber nicht für Aufruhr sorgen. Für diese ausgewogene Lesekost sorgt jedes Jahr eine andere Jury, und die Kunst der Politik besteht darin, die Jury klug auszuwählen. Heuer setzt sich diese mit Doris Eibl (Juryvorsitzende, Institut für Romanistik, Universität Innsbruck), Alexander Kluy (Literaturjournalist und Autor, München), Alexandra Plank (Kulturjournalistin, Innsbruck) und Andreas Unterweger (Schriftsteller, Graz) zusammen. Das Team hat wie ein erfahrenes Schiedsrichterquartett gearbeitet und als Innsbruck-liest-Buch einen Erlebnisbericht aus der Migrationsszene ausgesucht.

lina hofstädter, max moritz nenadDie Originalgeschichte von „Max und Moritz“ aus dem Jahre 1865 versetzt noch immer die Pädagogenschaft in Rage und die Lausbuben und Lausmädchen in Verzückung. Im Stile einer Terror-Fibel nämlich werden der Gesellschaft ihre kleinbürgerlichen Privilegien um die Ohren geknallt, während diese mit einem kleingeistigen Curriculum versucht, den Kids den scharfen Zahn für die Zukunft zu ziehen. Als Max und Moritz den Lehrer sprengen, indem sie sich an seiner Lustpfeife vergreifen, ist Schluss mit lustig. Die Helden werden zynisch zu Tierfutter vermahlen und dem Federvieh als Kraftnahrung vorgesetzt.

Für Pädagoginnen, die ein Leben lang unterrichtet haben, gibt es in der Pension kein Halten mehr, um endlich mit dem Max-und-Moritz-Trauma abzurechnen, indem man diese Story für die Gegenwart neu deutet.

elisabeth hager, der tanzende bergGleich zu Beginn sprengt sich eine Geburtstagsgesellschaft feierlich in einen Rausch, am Schluss, in der Stunde Null, stellt sich heraus, dass sich das ganze Land touristisch einwandfrei in die Luft gejagt hat. Sogar die felsenfesten Berge beginnen ob dieses Desasters zu tanzen und hinterlassen zerfallenes Gestein und zerbröselte Schicksale.

Elisabeth R. Hager gehört zu jener Handvoll Schriftstellerinnen aus Tirol, die einst zu Studienzwecken aus dem Land ausgestiegen sind, um sich einen frischen Blickwinkel auf die geschlossene Gesellschaft Tirols anzueignen. In der Blase des Gebirgslandes ist nämlich nun schon die dritte Generation vom Tourismus aufgezogen und wird unauffällig beäugt und niedergehalten, damit sie ja keine Geschäftsstörung bei den Nächtigungen auslöst.

norbert gstrein, mehr als nur ein fremderEin großkalibriger Autor muss im gegenwärtigen Literaturbetrieb drei Kanäle speisen: Einmal muss er regelmäßig Werke liefern, die einer letztlich sehr engen EU-Norm entsprechen. Zweitens muss er täglich seine Bereitschaft erklären, Preise, Stipendien und Uni-Auftritte zu absolvieren. Und drittens muss er am Branding der eigenen Biographie arbeiten, die im Idealfall zu einem Mythos ausgerollt werden kann.

Norbert Gstrein füttert alle diese Kanäle professionell, wobei das Professionelle vermutlich darin besteht, dass er alles mit stiller Ironie absolviert. So ergibt sich bei seinen Büchern immer eine gewisse Irritation, wie ernst das Gesagte nun gemeint ist, und ob es nicht letztlich gar eine Verhöhnung des Publikums ist, wenn der Autor läppisch das erfüllt, was sich eine von Germanisten angeführte Freundesschar vage von ihm erwartet.

durs günbein, äquidistanzÄquidistanz ist ein Zustand, der in vielen Segmenten menschlichen Lebens eine anerkannte Rolle spielt. Ob im juristischen, physikalischen oder poetischen Bereich, überall steigt die Zustimmung, wenn die Äquidistanz ins Spiel gebracht wird. Einen gesellschaftlichen Durchbruch erreichte diese Haltung während der großen Pandemie, als alle angehalten waren, Abstand zu allem zu halten.

Durs Grünbein nennt seine Sammlung aus etwa neunzig Gedichten straff „Äquidistanz“. Und schon das Cover ist so „ebenmäßig“ gestaltet, dass man es samt dem darin eingeschlagenen Buch gerne in die Hand nimmt und mit dem Finger die Linien nachfährt, die wie geographische Höhenlinien einen Abstand zu einem Gipfel messen. Das magische Wort selbst ist im harmonischen Schnitt aufgegliedert in die Silben Äqui-di-stanz.

kurt leutgeb, berlin und parisBücher über musikalische Genies sollen sich wie eine bunte Gitarre anfühlen, wenn man sie liest.

Kurt Leutgeb befolgt mit seinem Roman „Berlin & Paris“ diesen sinnlichen Rat aus dem Untergrund auf das genaueste. Sein Roman sticht knallig als die Yellow-Submarine aus dem Pop-Regal hervor, und wer dann noch die Chance bekommt, das Cover in voller Entfaltung zu sehen, wird jäh von einem Sog erfasst, der den Blick stracks ins Innere des Buches lockt. Ein kultiger Roman verlangt von der Leserschaft kultiges Annähern und Vorgehen!

helmuth schönauer, anmache abmache„Aushang in der Anlage einer Wohngenossenschaft: Achtung Bewohnende der Anlage. Bei Hitze besteht Gefahr zu verdursten. Trinken sie genug und kümmern sie sich um ihre Nachbarn, dass sie auch genug trinken. Jeder und jede soll jemanden aus der Nachbarschaft melden, der auf ihn aufpasst. Wer keine Nachbarin hat, dem wird eine zugeteilt!“ (S. 44)

Wer das Leben im öffentlichen Alltag für langweilig im Vergleich mit den reißerischen Meldungen der täglichen Nachrichten erachtet, sollte seinen Blick neu justieren, um das bemerkenswerte auch an scheinbar gewöhnlichen Dingen zu erahnen. „Anmache Abmache“ bietet eine Vorlage dafür, wie der Witz ganz speziell im Alltag entdeckt werden kann.

günter eichberger, weltverlustDie gängige Weltformel lautet: Wer Visionen hat, braucht einen Arzt. – In der Literatur freilich gilt die Formel auch umgekehrt: Wer auf einen Arzt wartet, kriegt Visionen. Günter Eichberger erzählt in heroisch-depressiver Form von einem, der auszieht, sich der Welt zu entledigen.

In der Bildung braucht es meist ein Initial-Erlebnis, das einem den berühmten Stoß gibt, etwas aus sich zu machen. (Beim Computer nennt man diesen Vorgang booten.) Tonnen von bürgerlichen Erziehungsromanen berichten davon, wie Helden ein Erweckungserlebnis haben, und in die Welt hinausziehen. Beim „Grünen Heinrich“ (Gottfried Keller) ist es die Mutter, die dem Kind die Koffer packt, beim „Taugenichts“ (Joseph von Eichendorff) hat eines Tages der Vater die Schnauze voll, und schickt den Sohn samt Geige weg von seiner Mühle.

christine hochgerner, nicht nur hasen schlagen hakenDie Biographien gewöhnlicher Menschen abseits von heroischen Lebensentwürfen gleichen meist haken-schlagenden Hasen. Dabei sind es die Gejagten selbst, die als Jagdträume hinter sich selbst her sind und sich dabei zu Tode hetzen.

Christine Hochgerner erzählt von diesen Hakenschlagenden Menschen aus der Sicht einer erhaben postierten Beobachterin. Die Erzählposition ist reflexiv in die Vergangenheit gerichtet, indem in straffen Plots die Heldinnen am Lebensende vorgestellt werden.

birgit birnbacher, wovon wir lebenSeit die vielgepriesene Arbeit selbst bei Arbeiterparteien ihren Stellenwert verloren hat, sinnieren immer mehr an den Rand der Gesellschaft gestülpte Menschen während ihrer Spaziergänge als Freigesetzte darüber nach, „wovon wir leben“.

In der Literatur wird das Thema Arbeit für jede Generation neu aufgerollt, wie sich ja auch die Arbeit stets neu einkleidet und den Menschen an den Hals wirft. Mit der sogenannten Literatur der Arbeitswelt übernahm im vorigen Jahrhundert die Literatur für kurze Zeit gar die Themenhoheit in der Politik, mit den Aktionen „Bitterfelder Weg“ (DDR) und „Grabe wo du stehst“ (BRD / AUT) wurde für kurze Zeit die Politik literarisch und die Literatur politisch – der Traum aller Germanisten.