Kurt Leutgeb, Berlin & Paris

kurt leutgeb, berlin und parisBücher über musikalische Genies sollen sich wie eine bunte Gitarre anfühlen, wenn man sie liest.

Kurt Leutgeb befolgt mit seinem Roman „Berlin & Paris“ diesen sinnlichen Rat aus dem Untergrund auf das genaueste. Sein Roman sticht knallig als die Yellow-Submarine aus dem Pop-Regal hervor, und wer dann noch die Chance bekommt, das Cover in voller Entfaltung zu sehen, wird jäh von einem Sog erfasst, der den Blick stracks ins Innere des Buches lockt. Ein kultiger Roman verlangt von der Leserschaft kultiges Annähern und Vorgehen!

Auf dem Frontcover steht die Kürzestangabe zum Roman: Um sich zu regenerieren gehen in den 1970ern David Bowie nach Berlin und Jim Morrison nach Paris. Als sich auf einem französischen Schloss die Wege kreuzen, verändert sich ihr Leben.

Der Roman ist im Hardcover von US-Literatur ausgeführt, dieser Griff über das überstehende Cover hinein in den soften Buchblock knüpft an alle Bücher an, die man sich als Leser aus den USA oder Großbritannien im Laufe des Lebens hat schicken lassen.

Dieses Signal verweist auf den Kosmos, in den sich „Berlin & Paris“ hineinwagt: Es geht um eine Kulturgeschichte aus Versatz- und Querstücken, die anhand neuer Biographien jene Poesie ansprechen, die bei der Rezeption von Pop entsteht.

Bowie und Morrison sind Träger einer weit ausladenden Pop-Kultur, worin die Kernelemente Musik, Eros, Sex, Drogen und Tod die Fixpunkte sind, um die sich alles dreht. Wer sich als Publikum im Selbstversuch Drogen nicht leisten kann, aus dem aktiven Sexleben ausgeschlossen und vom eintönigen Alltag angewidert ist, träumt sich über die Musik in Heldenbiographien hinein, die eine eigene Wirklichkeit schaffen.

Der Autor Kurt Leutgeb hält sich an alles, was an Sekundärliteratur, Interviews und Plattencovers über die beiden Helden gesichert ist. Auch die zeitgeschichtlichen Elemente sind historisch abgesichert und erzeugen vor allem im ersten Teil einen wahrhaftigen Sound, wobei die einzelnen Beobachtungen sehr straff und realistisch angerissen werden wie unverwechselbare Sound-Riffs.

Wie jede Heldenbiographie unterliegt auch der Mythos von Popikonen dem Dreischritt: Aufbau, Klimax, Tod und Verfestigung.

David Bowie ist durch Kokain aus der Bahn geworfen und stellt verblüfft fest, dass man zwar jeden im Auftritt-Tross feuern kann, nicht aber die Ehefrau und den kleinen Sohn. Eine Auszeit müsste an einem Ort geschehen, der für einen Mythos tauglich ist. Berlin als schizophrene Stadt zwischen den zwei Systemen des kalten Krieges könnte hilfreich sein.

Jim Morrison hingegen ist auf der Flucht vor Strafverfolgung und Gefängnis, seit es bei seinen Tourneen zu Tumulten und Rechtsbrüchen gekommen ist. Für ihn bietet sich Paris an, wo er den Mythos von Boheme und Poesie ausbauen könnte.

In zehn Kapitel schält der Roman die Helden aus ihren Kokons, in die sie sich verpuppt haben. Zuerst rasen sie im Gegenschnitt aufeinander zu, ehe sie in einem französischen Schloss aufeinandertreffen. Es geht darum, die poetischen Strategien auszutauschen und gleichzeitig auch die Geschlechtspartnerinnen kreuzweise zu wechseln, die ja ein Teil des Kulturkonzepts sind. Könnte man einen gemeinsamen Song aufnehmen? Könnte man Sexpartnerinnen teilen?

Während die Helden in der Dramaturgie von Workshops ihre Theorien zu Musik, Literatur und Showbusiness austauschen und anhand von sexuellen Long-Runs überprüfen, gehen die Anwälte ihren Geschäften nach und versuchen, die jeweiligen Karrieren wenigstens finanziell zu retten.

Gegen Mitte des Romans ist die Verschränkung der beiden Helden so heftig, dass alle den Überblick verlieren.

Wer will sich nun scheiden lassen, wer ist impotent, wer hat einen Hitler-Song geschrieben, den niemand aufzuführen wagt, wer fühlt sich als Musiker missverstanden, wer ist nun von den Doors hinausgeworfen worden?

Bei der Klärung dieser Fragen kommt es zu einer existenziellen Mutation. Die beiden Karrieren werden vom Autor, von der Fangemeinde, ja sogar von der Geschichtsschreibung probehalber vertauscht, sodass David Bowie müde wie ein Hund in Paris stirbt, und Jim Morrison noch eine anständige Weile weiterlebt und Karriere macht, nachdem er in Berlin frische Kraft geschöpft hat.

Diese neuen Biographien sind genauso logisch wie die sogenannten echten. Beim Mythos handelt es sich nämlich um menschliches Machwerk, das eine Geschäftsidee unterstützt.

Die beiden neu erzählten Lebensentwürfe enden mit höchst blumigen Zeilen eines nicht geschriebenen Songs:

„Der Tod schreibt weiß / das Glück schreibt bunt.“

„Berlin & Paris“ spielt mit den Ingredienzen zu Kulten, wenn nicht gar Ideologien. Kurt Leutgeb schüttet noch einmal alles aus, was die Leser vielleicht in den 1970ern selbst als Fans erlebt haben, und setzt es neu zusammen. So bietet er dem mittlerweile oft schon stark gealterten Publikum die Möglichkeit, die Farben von damals neu aufzurufen und unter einem Alterslicht zu ordnen. Die beiden Städte als Handlungsträger, die beiden Ikonen Bowie und Morrison, Sex und Drugs als die beiden Hauptmotive für ein wildes Leben: sie alle werden durch kalte Erzählweise eines vorgeblichen Chronisten noch einmal heiß gemacht, ehe wir Leser den „gelben Roman“ beiseitelegen wie eine Gitarre. – Erschöpft, bunt und weiß.

Kurt Leutgeb, Berlin & Paris. Roman
Klagenfurt: Sisyphus Verlag 2023, 279 Seiten, 23,00 €, ISBN 978-3-903125-74-2

 

Weiterführende Links:
Sisyphus Verlag: Kurt Leutgeb, Berlin & Paris
Homepage: Kurt Leutgeb

 

Helmuth Schönauer, 15-04-2023

Bibliographie

AutorIn

Kurt Leutgeb

Buchtitel

Berlin & Paris

Erscheinungsort

Klagenfurt

Erscheinungsjahr

2023

Verlag

Sisyphus Verlag

Seitenzahl

279

Preis in EUR

23,00

ISBN

978-3-903125-74-2

Kurzbiographie AutorIn

Kurt Leutgeb, geb. 1970 in Steyr, lebt in Wien.