Günter Eichberger, Weltverlust

günter eichberger, weltverlustDie gängige Weltformel lautet: Wer Visionen hat, braucht einen Arzt. – In der Literatur freilich gilt die Formel auch umgekehrt: Wer auf einen Arzt wartet, kriegt Visionen. Günter Eichberger erzählt in heroisch-depressiver Form von einem, der auszieht, sich der Welt zu entledigen.

In der Bildung braucht es meist ein Initial-Erlebnis, das einem den berühmten Stoß gibt, etwas aus sich zu machen. (Beim Computer nennt man diesen Vorgang booten.) Tonnen von bürgerlichen Erziehungsromanen berichten davon, wie Helden ein Erweckungserlebnis haben, und in die Welt hinausziehen. Beim „Grünen Heinrich“ (Gottfried Keller) ist es die Mutter, die dem Kind die Koffer packt, beim „Taugenichts“ (Joseph von Eichendorff) hat eines Tages der Vater die Schnauze voll, und schickt den Sohn samt Geige weg von seiner Mühle.

Bei Günter Eichberger hängt zu Beginn des Romans „Weltverlust“ die Mutter an einem Strick aus dem Fenster: Zeit für den Ich-Erzähler, den bedrückenden 178-Seelen-Ort zu verlassen, wodurch gleich zu Beginn die Dimension der Welt des Helden umrissen wird.

Die Kapitelüberschrift „Aufbruch“ ist vielleicht sehr großzügig gewählt, denn der Held ändert nur kurz die Brennweite seiner Phantasie und begibt sich ins Wartezimmer eines Arztes.

Dieses Wartezimmer stellt man sich am besten als eine Art Vorhof zur Welt dar, es hat höllische Züge, wenn man auf die Hölle wartet, und himmlische, wenn man die Welt in Richtung nach oben verlassen möchte.

So sind auch die evozierten Bilder doppeldeutig. Wenn Gondeln auf der Mur fahren, bedeutet es, dass Graz Venedig ist, oder Venedig trostlos wie Graz? Andererseits schiebt sich flugs eine neue Identität ins Eigenbild und überlagert alles, was mühsam aufgebaut worden ist. Für einen Augenblick entschwindet der Erzähler als Untoter nach Istanbul.
Aus diesen Identitäten heraus überlegt der Wartende Sätze, die er dem Arzt erzählen könnte. Wenn dieser vielleicht fragt, „was uns fehle“, so könnte die Antwort lauten:

„Die innere Sonne fehlt.“ (15)

Da der Arzt noch unbekannt ist, sind auch die möglichen Sätze noch unerschlossen, die vielleicht fallen werden. Wahrscheinlich wird er das Wort „Gesichte“ unterbringen, was wie die Gondeln auf der Mur vieles bedeuten kann.

Wie überall auf der Welt ist ein Buch besonders im Wartezimmer ein ideales Mittel, sich auf die Welt vorzubereiten. „Und jetzt wende ich mich wieder meinem Buch zu. Es wird mich aus diesem Wartezimmer befreien. Es wird mich von der Welt befreien. Es heißt schlicht Weltverlust.“ (23)

Dieses Wartebuch erweist sich schon auf den ersten Seiten als Zauberbuch. Mit den Krallen eines postmodernen Romans verschlingt es den Leser, während dieser glaubt, ein Buch zu verschlingen. Der Weltverlust ist somit der Titel des Buches, der Zustand, der beim Lesen für den Leser eintritt, und das finale Forschungsergebnis zu einer Versuchsanordnung, in der die Welt zum Verschwinden gebracht werden soll.

Für die Lektüre bedeutet es, dass die Welt auf allen Ebenen verlorengeht. Daher sind zu Beginn probehalber alle tot. Während sich im Warteraum normale Menschen Geschichten erzählen, die oft in die Untiefen der Verwandtschaft hineinragen, sind beim Wartezimmer-Ich alle tot und die Finanzen verworren. In Spanien treiben sich allerhand Gläubiger herum, die als Gläubige einer Pilgerreise gestartet sind. Der Leser reagiert mit bodenloser Trauer, weil ihn offensichtlich zwischen den Seiten „der Esel verlassen hat“ (35), den er sich einst vermutlich zusammen mit Sancho Panza angelesen hat.

Beim Aufblicken aus dem Buch tut sich eine Stimmung auf, als hätte der Arzt schon mit ihm gesprochen und er hätte schon den befreienden Satz gesagt, dass er von Berufs wegen müde sei. „Meine Arbeit besteht darin, an meinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Nach drei  Stunden, in denen ich auf den leeren Bildschirm gestarrt habe, stehe ich zufrieden wieder auf.“ (39)

Aber beim Hineinschauen in den Text vom Weltverlust eruptieren schon die nächsten Bilder und verformen sich zu grotesken Anekdoten, wenn jemand erzählt, dass er die Begriffe „Heirat“ und „Weltkrieg“ in der gleichen Hirnlade gespeichert hat.

Sollte der Arzt darauf eingehen, würde der Klient bestätigen, dass ihn einmal durchaus die Liebe angesprochen habe, aber er weiß nichts Genaueres mehr. Vielleicht könnte man diese Konstellation „angesprochen werden von der Liebe“ und „Vergessen“ zu einem Syndrom ausbauen, das eine Wehrdienstbefreiung nach sich ziehen könnte. (47)

Auch wenn die Vorfahren schon alle für tot erklärt sind, tauchen sie doch auf wie seltene Fußballstars oder Musiker. Ja, Maradona ist deutlich zu erkennen. „Maradona ist kürzlich gestorben. Seit er mir einen Ball an den Kopf geschossen hat, ist er mein Freund.“ (71)

Und über Bob Dylan gibt es die Vermutung, dass er aus der Rippe eines Fans geschnitten worden ist. „Er ist eine Assoziationskette, die irgendwann bricht.“ (81)

Der Leser sitzt im „Weltverlust“ und liest und dichtet und assoziiert, dass die sprichwörtlichen Fetzen fliegen. – „Ich habe einen Satz gezüchtet, der immer weiterwächst. Er ist jetzt schon hundert Seiten lang. Und ein Ende ist nicht abzusehen.“ (85)

Wie in sauberen Bildungsromanen üblich, muss die Klammer des Erzählens hinten geschlossen werden, wenn man sie vorne aufgemacht hat.

Der Held ist wieder im Wartezimmer. „Ich lege das Buch aus der Hand und vergesse augenblicklich, was ich gelesen habe.“ (91)

Vielleicht sollte noch ein bisschen was vom Äußeren erzählt werden, in dem der Erzähler sitzt, wenn er sich über das Wartezimmer hinausdenkt. Irgendwie hat alles mit Aussichtslosigkeit zu tun, es herrscht eine Stimmung, die man mit dem Wort „Graz“ umschreiben könnte. „In der Mur fließt immer noch der Harn meiner Ahnen.“ (93)

Günter Eichberger erzählt großes Kino mit einem Mega-Plot: Nirgendwo ist die Breitbandphantasie so episch wie in einem Wartesaal, in dem man ohne konkrete Diagnose sitzt wie ein Zeuge, der nichts gesehen hat. Der Weltverlust ist vielleicht eine Therapie, welche die Welt selbst anwendet, um sich vor nervigen Patienten zu schützen.

Günter Eichberger, Weltverlust
Klagenfurt: Ritter Verlag 2023, 96 Seiten, 15,00 €, ISBN 978-3-85415-654-3

 

Weiterführende Links:
Ritter Verlag: Günter Eichberger, Weltverlust
Wikipedia: Günter Eichberger

 

Helmuth Schönauer, 06-03-2023

Bibliographie

AutorIn

Günter Eichberger

Buchtitel

Weltverlust

Erscheinungsort

Klagenfurt

Erscheinungsjahr

2023

Verlag

Ritter Verlag

Seitenzahl

96

Preis in EUR

15,00

ISBN

978-3-85415-654-3

Kurzbiographie AutorIn

Günter Eichberger, geb.1959 in Oberzeiring (Steiermark), lebt in Graz.