Sun Longji, Das ummauerte Ich
„Das ummauerte Ich“ lautet der Kerntitel dieses Buches, das das Psychogramm der chinesischen Denk- und Verhaltensstruktur zu entschlüsseln sucht. Es befasst sich – wie der Untertitel verdeutlicht – mit der „Tiefenstruktur der chinesischen Mentalität“. Der Begriff der Tiefenstruktur kennzeichnet die Entwicklung eines Individuums sowie die (unbewusste) Verinnerlichung sozialer Normen und Regeln durch eine Person bzw. eine Gruppe, die das Denken und Verhalten steuern.“ (S. 12)
Sun analysiert die Verhaltensweisen und die chinesische Mentalität aus einer tiefenpsychologisch geprägten Perspektive, die stark von Sigmund Freud beeinflusst ist. Dabei weist er der Bedeutung der „Mauer“ als Metapher für die Auseinandersetzung mit dem chinesischen Verhalten im politischen und sozialen Leben in China eine zentrale Rolle zu.
Die Einführung bietet einen kurzen Abriss in Sun Longjis Leben, einen Einblick in sein Denken in die Entstehung seines Hauptwerks „Das ummauerte Ich“ sowie die Reaktionen darauf. In fünf großen Kapiteln geht Sun Longji dem grundlegenden Wesen des chinesischen aus einer stark tiefenpsychologisch geprägten Perspektive nach, das er in der „Tiefenstruktur der chinesischen Mentalität“ ausmacht, wobei er sich an Noam Chomskys in den 1950-er Jahren entwickelte Begriffe der Oberflächenstruktur und Tiefenstruktur orientiert.
Im ersten Kapitel „Das chinesische Gewissen“ das sich stark von der chinesischen Philosophie des Konfuzianismus und Daoismus geprägt zeigt, setzt sich u.a. mit dem chinesischen Verständnis vom Menschen, der Rolle von Leib und Herz, aber auch den Eigenheiten des chinesischen Gewissens, der chinesischen Fürsorglichkeit und Herzlichkeit, dem Verhältnis Eltern – Kinder sowie der Organisation der Gesellschaft durch den Staat auseinander.
Das zweite Kapitel „Zweierbeziehungen“ thematisiert das Verhältnis zwischen Individuum und den "Anderen" bzw. der Gesellschaft. Dabei werden aus Alltagsbeschreibungen die Unterschiede zwischen westlicher und chinesischer Kultur und Gesellschaft aufgezeigt, wobei das Verständnis westlicher Kultur mitunter sehr holzschnittartig erscheint und befremdlich wirkt. Das Kapitel setzt sich mit dem chinesischen Streben nach Harmonie, dem fremdbestimmten Charakter und der Beziehung zwischen den Generationen auseinander.
Kapitel drei „Das chinesische Individuum“ beschreibt das Individuum als überlagert und unterentwickelt durch die gesellschaftlichen Forderungen, Traditionen, vorgegebenen Kategorien und Stereotype, während im vierten Kapitel „Staat und Gesellschaft“ die zentrale Rolle des Staates für die Gesellschaft und die Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen aufgezeigt wird. Dabei verweist Sun auf die Vermischung von Politik und Religion und die Hegemonie des Staates über Gesellschaft und Gewissen ebenso wie auf die Dominanz der Hauptstadt und die versuchte Harmonie zwischen Zentrum und Peripherie oder die Dialektik zwischen Gleichmacherei und Vergünstigungen.
Im letzten Kapitel „Das chinesische Verhältnis zur Aussenwelt“ setzt sich mit der chinesischen „Mentalität der verschlossenen Tür“ auseinander, der ein starker Antagonismus zwischen der chinesischen Welt und der Welt der „Anderen“ zugrunde liegt, um am Ende einen eigenwilligen „Realitätssinn der Chinesen“ näher zu beleuchten, der sich im Denken der Harmonie, in Fantasien, in einer schwachen Neigung zur Kritik und Reflexion und einem metaphysischen Überschwang ausdrückt.
Sun Longji gibt ein seinem vor allem psychologisch und weniger historisch orientiertem Werk einen spannenden Einblick in das chinesische Wesen und Denken sowie gesellschaftliche und politische Verhältnisse. Schwächen der Darstellung lassen sich aber gerade anhand der Vergleiche mit unseren westlichen Lebens- und Verhaltensweisen erkennen, bei denen die Analyse der westlichen Verhältnisse oft recht grob und undifferenziert ausfällt.
Dennoch bietet „Sun Longji, Das ummauerte Ich“ einen spannenden, lesenswerten vor allem die Alltagsverhältnisse in China detailliert beschreibenden Eindruck über das Leben der Menschen in der Gesellschaft und im Staat.
Sun Longji, Das ummauerte Ich. Die Tiefenstruktur der chinesischen Mentalität. Sozialwissenschaftliches Sachbuch, hrsg. v. Prof. Dr. Thomas Heberer, übers. v. Stephanie Claussen / Ingrid Hermann-Boumessid / Susanne Höck u.a. [Orig. Titel: Zhongguo wen hua di shen ceng jie gou]
Esslingen: Drachenhaus Verlag 2023, 400 Seiten, 29,50 €, ISBN 978-3-943314-73-1
Weiterführender Link:
Drachenhaus Verlag: Sun Longji, Das ummauerte Ich
Andreas Markt-Huter, 30-09-2024