Judy Budnitz, Nice Big American Baby

Buch-CoverWas für ein prächtiger Titel! - Man denkt sofort an fette Vorabendserien und üppige Imbisse, an mit Eiscreme abgefüllte feiste Lieblinge, an strampelnde Kuschelwesen in Stars und Stripes. Und dabei ist alles mit einem Schlag erkältet und von einer bitteren Patina durchtränkt, wenn Judy Budnitz mit einer ihrer zwölf neuen Geschichten mitten ins Amerikanische Alltagsherz zu sticheln beginnt.

In der Titelgeschichte erfährt eine Frau irgendwo im realen Fabelreich außerhalb der USA, dass jeder Mensch Amerikaner wird, wenn er dort geboren ist. Also lässt sie sich von einem Schlepper über die Grenze in die Staaten bringen, nicht zu früh, damit sie nicht abgeschoben wird, nicht zu spät, damit das Kind auch wirklich in Amerika auf die Welt kommt.

Aber in diesem Märchen geht alles schief. Die Frau wird aufgegriffen und zurückgeschickt. Da geht sie mit ihrem ungeborenen Sohn ein Bündnis ein. Sie wird ihn so lange nicht gebären, bis er Amerikaner ist. Die Jahre vergehen, das ungeborene Kind wird immer größer, bis es die Ausmaße eines Globus hat. Dann darf es zur Welt und der Ruf ist unüberhörbar: was für ein Nice Big American Baby!

Elegant sind hier triviale Vorstellungen, mythische Glücksverheißungen und der knallharte amerikanische Alltag zueinander in Verbindung gebracht. Die Härte des Lebens bringt sanfte Geschichten hervor, selbst etwas Zärtliches wie ein Baby kann zu einem unförmigen Koseding werden, wenn es amerikanisch durchwuchert ist.

Dieser Dunst zwischen klarer Analyse und verschwiegener Lösung zieht sich auch durch andere Geschichten, wenn etwa Mutter zur Mammographie geht, weil das medizinisch korrekt ist, dann aber die Ängste kommen, bis die Tochter an ihrer Stelle ihre Brust auf den Scanner legt, alles in Ordnung!

Titel wie „Leine ziehen“, „Gesicht wahren“ oder „Der glückliche Schnitt“ deuten darauf hin, dass es immer um eine rudimentär zurechtgebastelte Eigenmeinung geht, welche dann dem offiziellen Habitus gegenübergestellt wird. In dieser leicht verlogenen, aber immer noch irgendwie zurechtgebogenen Moral ähneln diese Geschichten der berühmten österreichischen Devianz, worin es ja darum geht, durch Abweichung ein Ziel wenigstens elegant zu verfehlen, wenn man es schon nicht erreichen kann.

Die Figuren sprudeln in ihren Geschichten ihren Part herunter wie die Auftritte einer Vorabendserie, aber die einzelnen Sager passen überhaupt nicht zusammen. Und gerade diese Abgerissenheit zwischen den Sequenzen fördert dann die völlige Verlorenheit zutage. So finden etwa die dement gewordenen Eltern nicht zur Tochter, die sie besuchen wollen. Stattdessen überfahren sie mehrmals ein Ding, das auf der Straße liegt, bis es nichts mehr spürt oder tot ist oder was immer es war.

In fast allen Erzählungen gibt es als Höhepunkt einen nässenden Fleck, ein Tier wird überfahren und nässt, das verstörte Kind weint einen Fleck ins Leintuch, ehe es verschwindet, Gesichter verrinnen zu einem nässenden Klecks und selbst die so genannte „Nahtoderfahrung “ist letztlich nur ein amorphes feuchtes Ding. Allein diese „Nahtoderfahrung“ wirkt als Wort und Ereignis noch lange nach, das macht diese wundersame Kraft von Judy Budnitz’ Erzählungen aus.

Judy Budnitz, Nice Big American Baby. Erzählungen. A. d. Amerikan. von Kathrin Razum. [Orig.: New York, 2005].
Hamburg: Hoffmann und Campe 2006. 252 Seiten. EUR 20,60. ISBN 978-3-455-40010-6.

 

Weiterführende Links:
Hoffmann und Campe: Judy Budnitz, Nice Big American Baby
Wikipedia: Judy Budnitz (engl.)

 

Helmuth Schönauer, 10-10-2006

Bibliographie

AutorIn

Judy Budnitz

Buchtitel

Nice Big American Baby

Originaltitel

New York

Erscheinungsort

Hamburg

Erscheinungsjahr

2006

Verlag

Hoffmann und Campe

Übersetzung

Kathrin Razum

Seitenzahl

252

Preis in EUR

20,60

ISBN

978-3-455-40010-6

Kurzbiographie AutorIn

Judy Budnitz, geb. 1973 in Massachusetts, lebt in San Francisco.