Lutz Seiler, Turksib

Buch-CoverEin Nachtzug rattert durch die Einöde Kasachstans. - Eigentlich ist das schon genug Handlung, aber im Zug mit dem Namen "Transsib" sitzt ein schwermütiger Erzähler drin, der aus einer gewöhnlichen Zugsfahrt tatsächlich eine Erzählung macht.

Für die Reise durch die wüstenähnliche Geographie hat sich der Erzähler einen Geigerzähler gekauft, immerhin ist die Gegend zwischendurch radioaktiv verseucht und es macht Sinn, die Reise unter einem radioaktiven Aspekt auszumessen. So geht denn auch einmal das Alarmlämpchen los, kann aber auch sein, dass es nur den Standby-Modus anzeigt.

Die Garnitur wird offensichtlich immer wieder neu zusammengekoppelt, denn jedesmal wenn man in Richtung Speisewagen aufbricht, gibt es wieder frische Irrgärten von Korridoren zu entdecken. Die Schaffnerin ist klein wie ein Vogel und macht auch sonst einen filigran kompakten Eindruck, und zu einer Begegnung der dritten Art kommt es, als plötzlich ein Heizer auftaucht.

Der Heizer tritt seit Franz Kafka in der Literatur immer dann auf, wenn der eben frisch verführte unschuldige Held wieder etwas festen Boden unter sich ausfassen soll. Der kasachische Heizer freilich ist ein deutscher Romantiker und singt ein paar verstümmelte Verse, die jede kasachische Lyrik in den Schatten stellen. Mitten in der Winterlandschaft reißt es den Zug in die Bremsen, alles stürzt übereinander und der Heizer verkrallt sich in den Erzähler zu einem langen, bissigen Fleisch-Kuss.

Lutz Seilers Erzählung "Turksib" ist Teil einer größeren Arbeit, die wohl erst noch im Entstehen ist. Für diese groteske Erzählung freilich erhielt der Autor 2007 den Ingeborg Bachmann Preis. Gewürdigt wird dabei die feine Art der Reisepoesie, die im Stile Heinrich Heines die russisch-deutsche Freundschaft zum Erklingen bringt. - Eine skurrile Eisenbahnerzählung!

In der zweiten Erzählung "Die Anrufung" legt der Erzähler gerade eine heftige Prüfung über die Schönheit ab. Während er dem Professor die wichtigsten Sätze über die Schönheit mündlich ausbreitet, verliebt er sich fast in seine eigene Stimme und fällt zurück in die Kindheit, wo er oft tagelang nur Ausrufe geübt hat. Wenn er die Mädchennamen Andrea oder Kerstin gerufen hat, dann nur, um sich selbst in diesem schönen Klang zu hören, die Angerufene hatte nie eine Bedeutung.

Zum Rufen gehörte, daß das Dorf seinerseits völlig still und ohne Antwort blieb. (44)

Vielleicht ist das Schöne wirklich nichts anderes eine Stimmübung, und der Satz, "schön sprechen!" bringt dann die letzte Schönheit hervor.

Lutz Seiler, Turksib. Zwei Erzählungen.
Frankfurt/M: Suhrkamp 2008. 48 Seiten. EUR 12,80. ISBN 978-3-518-41968-7.

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp-Verlag: Lutz Seiler, Turksib
Wikipedia: Lutz Seiler

 

Helmuth Schönauer, 22-04-2008

Bibliographie

AutorIn

Lutz Seiler

Buchtitel

Turksib

Erscheinungsort

Frankfurt a. M.

Erscheinungsjahr

2008

Verlag

Suhrkamp

Seitenzahl

48

Preis in EUR

12,80

ISBN

978-3-518-41968-7

Kurzbiographie AutorIn

Lutz Seiler, geb. 1963 in Gera, lebt in Wilhelmshorst bei Berlin.

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