Wolfgang Hermann, Konstruktion einer Stadt

Buch-CoverÜblicherweise verbindet man mit einer Großstadt etwas Bedrohliches und Unmenschliches, nicht umsonst heißt ein philosophischer Bestseller über dieses Thema die "Unwirtlichkeit unserer Städte".

Bei Wolfgang Hermann hingegen ist die Stadt vor allem ein poetischer Raum, durch den es sich wunderbar streifen lässt. Gemeint ist Westberlin zu einer Zeit, als es noch völlig von Mauern eingekreist war. Gleich zu Beginn wird das Konzept der Stadt-Versuche erklärt:

Was ich schrieb, waren Protokolle des Verlusts. Ich träumte viel in dieser Stadt, Träume vom Geborgensein wie im Bauch eines schlafenden Tiers. [...] Ich veröffentliche meine tastenden Protokolle vom Nichtbegreifen des Tiers der Stadt mit großer Verspätung, jetzt, wo das alte Westberlin als Chimäre am Horizont verdämmert. (5)

Die erzählerische Grundhaltung ist melancholisch optimistisch, wenn gleich es auch trübe Sequenzen gibt, die sich aber durch ständiges Zergliedern der Beobachtung letztlich in poetische Stammzellen auflösen. Das ist überhaupt das Packende an dieser Prosa: Das erzählende Auge dreht sich wie in einer Blaulichtbox und nimmt dennoch nur die feinen Haarrisse in der abgetasteten Materie auf.

So entwickelt sich allmählich eine beinahe impressionistische Stimmung, die ganz fern vielleicht an Robert Walser erinnert.

Ein junger Mann saß mit traumverlorenem Blick an seinem Fenster. In einer Vollmondnacht war es gewesen, auf dem vertrauten Berg. Zerschlagen von der Reise war er mit seinem Hund in die Wiesen gegangen, nahe beim vereinzelten Gehöft, das in mitternächtlicher Stille lag. (39)

An solchen Stellen ist von einer Stadt scheinbar weit und breit nichts zu merken, aber die Stadt kann sich auch als Antimaterie äußern, als Sehnsucht nach einer Vollmondnacht, als Blick aus dem Fenster.

Natürlich gibt es Erzähl-Teile, die ganz dicht an die Stadt herangeführt sind, etwa wenn gleich zu Beginn unter dem Titel "Namen" letztlich die Namenlosen zu Wort kommen, die alles hinnehmen und ein politisch amorphes Dasein fristen.

An anderer Stelle geht es um das Draußen, wo offensichtlich in einem Dritte-Welt-Ambiente zerrissene Figuren in einer devastierten Gegend wortlos einem Touristen-Führers nachstapfen, der sie in die Leere führt. (42)

Wolfgang Hermann nennt seine poetischen Konstruktionen Versuche, aus den verschiedensten Blickwinkeln ergibt sich eine eigenartige Stadt, die mit üblichen Stadtgebilden auf den ersten Blick nichts zu tun hat. Hier ähneln die "Versuche" der Stadt-Vermessung eines Michel Butor, der die Stadt überhaupt als Text begreift. (Die Stadt als Text, 1992).

Wolfgang Hermanns Konstruktion einer Stadt sind intime, aufgeweitete Augenblicke eines Gebildes, das an allen Ecken und Enden an einander geklammert ist. "Die Dunkelheit in den Augen eines jeden, heißt so ein Kapitel, worin jeder von uns vorkommt, sei es am Abend, als Gesicht oder als lesendes Kind" (24). - Optimistisch wunderbar!

Wolfgang Hermann, Konstruktion einer Stadt. Versuche.
Hohenems: Limbus 2009. 109 Seiten. EUR 14,90. ISBN 978-3-902534-27-9.

 

Weiterführende Links:
Limbus-Verlag: Wolfgang Hermann
Wikipedia: Wolfgang Hermann

 

Helmuth Schönauer, 19-10-2009

Bibliographie

AutorIn

Wolfgang Hermann

Buchtitel

Konstruktion einer Stadt. Versuche

Erscheinungsort

Hohenems

Erscheinungsjahr

2009

Verlag

Limbus

Seitenzahl

109

Preis in EUR

14,90

ISBN

978-3-902534-27-9

Kurzbiographie AutorIn

Wolfgang Hermann, geb. 1961 in Bregenz, lebt in Wien.