Serhij Zhadan, Depeche Mode

Buch-CoverNichts kann letztlich einem Chaos im Hirn halbwegs gerecht werden außer der chaotische Roman.

Unter dem Titel einer englischen Synth-Rock-Gruppe, die den Namen vom französischen Modemagazin "Depeche Mode" übernommen hat, schreibt Serhij Zhadan alles zusammen, was einer Gruppe junger Erwachsener in der postkommunistischen Stadt Charkiw im Verlaufe von ein paar Tagen passieren kann.

Allein schon der formale Aufbau des Romans ist beeindruckend und anarchistisch klug komponiert. So besteht das erste Drittel des Romans aus Prologen, welche die Helden mit den klingenden Namen Dog, Kakao, Zündkerze, Wowa oder Wolodja in ihren weltabgewandten Alkoholexzessen zeigen. Es braucht tatsächlich vier Prologe, um die Helden in ihrer Absurdität vorzuführen. Einer kotzt ständig, ein anderer fällt beim Fußballspiel von der Tribüne und in jenes Koma, aus dem ihn erst die Polizei wieder befreien kann. Ein anderer versucht sich im Wodka-Handel und wird von einem irren Schaffner aus Aserbeidschan ins Abteil gesperrt, so dass er durch die Fensterscheibe ins Freie springen muss. Die Tage vergehen mit schlafen, kotzen, organisieren von Alkohol.

Die scheinbare Haupthandlung beginnt damit, dass sich der Stiefvater von einem der Helden erschossen hat. Da der Stiefsohn aber verschwunden ist, sucht die Truppe ihren Kommilitonen für das Begräbnis, landet aber in einer stillgelegten Fabrik, wo sie die Büste von Molotow klaut. Die Haupthandlung leistet sich sogar einen zweiten Teil, worin die Protagonisten völlig zugekifft in die Live-Diskussion bei einem Musiksender einsteigen, wo es gerade um Depeche Mode geht.

Plötzlich wird ein Buch über seltene Chemikalien vorgestellt, immerhin studiert die Gruppe pro forma Chemie, ehe es vier Epiloge braucht, um aus dem Desaster hinauszufinden.
Serhij Zhadans Roman ist aberwitzig absurd. Dialoge finden prinzipiell nur zwischen Behörde und Opfer statt, wenn die Leute untereinander reden, ist die Hälfte davon jeweils im Koma. Einmal gelingt ein Gespräch über die verflossene Sowjetunion, indem jeder, der gerade am Joint saugt, einen bemerkenswerten Satz loslässt.

Der Humor ist von jener gaga-Sorte, die nur bei entsprechender Dosis Nervengift entsteht.
So wird etwa gerätselt, wie man sich mit einem Gewehr erschießen kann, wenn der Lauf zu lang ist. Die Lösung: man muss mit den Zehen den Abzug ziehen, während man den Kopf über den Lauf hält. (Sinnigerweise ist der Stiefvater, der das ausprobiert, am rechten Bein amputiert und also Linkshänder am Fuß.)

Was beim ersten Überflug des Lese-Auges wie eine absurde Agglomeration transzententer Bausteine wirkt, erweist sich schon nach ein paar Seiten als die Logik des Chaos. Selbst wenn die Ukraine vielleicht an manchen Stellen leiser tickt als dieser zersprungene Plot, es handelt sich um einen durch und durch ukrainischen Roman.

Serhij Zhadan, Depeche Mode. Roman. A. d. Ukrain. von Juri Durkot und Sabine Stöhr. [Orig.: Depes Mod, Charkiw, Folio 2004].
Frankfurt/M: Suhrkamp 2007. ( = es 2494). 245 Seiten. EUR 10,-. ISBN 978-3-518-12494-9.

 

Weiterführende Links:
Wikipedia: Serhij Zhadan
Suhrkamp-Verlag: Serhij Zhadan, Depeche Mode

 

Helmuth Schönauer, 03-08-2010

Bibliographie

AutorIn

Serhij Zhadan

Buchtitel

Depeche Mode

Originaltitel

Depes Mod

Erscheinungsort

Frankfurt

Erscheinungsjahr

2007

Verlag

Suhrkamp

Übersetzung

Juri Durkot und Sabine Stöhr

Seitenzahl

245

Preis in EUR

10,00

ISBN

978-3-518-12494-9

Kurzbiographie AutorIn

Serhij Zhadan, geb. 1974 in Starobilsk/Ostukraine Kreis Kosiv, lebt in Charkiw.

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