judith w. taschler, nur nachts ist es hell„Geschichte erzählt als Gutenachtgeschichte für Erwachsene“ – mit dieser frischen Leseempfehlung ermuntern einander die Fans von Judith Taschler, ihre neue Familiensaga zu lesen.

Judith Taschler legt ihr Versprechen, die Geschichte mit bemerkenswerten Schicksalen und Geschichten auszukleiden, mit Quellen gesichert offen. Im Nachklang des Romans ist ein fiktionaler Stammbaum abgedruckt, in dessen Mittelpunkt die Heldin Elisabeth Brugger steht. Sie wird aus der Ich-Perspektive etwa die Zeit vom ersten Weltkrieg bis 1972 erzählen.

Der Titel „nur nachts ist es hell“ gibt einen Hinweis auf die Erzählhaltung hinter der Heldin: Sie kramt eines Tages ein Schreibheft aus der Schublade und beginnt ihr Leben aufzuschreiben, „egal, was die Nachkommenschaft daraus einmal macht“. Diese Aufzeichnungen erhellen nächtens das Leben durch Rückschau.

bernhard setzwein, kafkas reise durch die bucklige weltAufregende Vorstellung: Franz Kafka hat 1924 seinen Tod nur vorgetäuscht, ist untergetaucht, hat die Nazis überlebt und erscheint nach 1945 in Meran, wo er im Apollo-Kino Karten abreißt. Als Qualifikation für diese Tätigkeit dient ihm die eigene Erzählung vom Türhüter, welcher bekanntlich streng darauf achtet, dass niemand Falscher das Gebäude betritt.

Bernhard Setzwein schöpft mit seinem Roman „Kafkas Reise durch die bucklige Welt“ in vollen Zügen aus dem Mythos „Kafkaniens“. In diesem Reich halten sich das Groteske, Bürokratische und Entgleiste die Waage. Südtirol ist als wundersamer Fixpunkt verankert: Seit 1920 Franz Kafka eine schwere Depression in Meran zu lindern versucht, wird in der Literaturszenerie diese Kurstadt zum Inbegriff für schwermütige Heilungsversuche.

helwig brunner, flirrenEin guter Zukunftsroman lässt sich mit der Hochrechnung für einen Wahlabend vergleichen, die Stimmen sind abgegeben und werden ausgezählt, die Spannung steigt, und das Ergebnis wird mit der Prognose halbwegs übereinstimmen.

Helwig Brunner arbeitet mit seinem beruflichen Standbein in einem ökologischen Planungsbüro, während er sich als Schriftsteller mit dem Spielbein für „klimarelevante Desaster“ interessiert. Mit dieser Beidbeinigkeit ist auch der Held des Romans „Flirren“ ausgestattet, der von sich sagt, er sei „doppelt gefordert als schreibender Wissenschaftler und forschender Literat“. (63) Der Erkenntnisgewinn aus wissenschaftlichen Versuchsreihen und assoziativen Fiktionen ist wohl auch das geheime Thema des Romans.

erwin uhrmann, zeitalter ohne BedürfnisseWenn keine Bedürfnisse mehr da sind, hat man sie entweder selbst erfüllt, oder sie sind von sich aus abgehauen und haben die bisherigen Bedürfnisträger entleert zurückgelassen.

Erwin Uhrmann nimmt gleich vom Titel an die Leser in die Pflicht. Er stellt zwar ein Ambiente für Utopie und Dystopie zur Verfügung, die Text-User aber müssen je nach ihren Bedürfnissen sich den Roman selbst ausmalen. Das ist übrigens bei allen Romanen üblich, die nicht ein vorinstalliertes Klischee abhandeln.

„Zeitalter ohne Bedürfnisse“ lässt also ein paar Figuren auftreten, die wie beim „Mensch-ärgere-dich-nicht“ nach einer selbst-gewürfelten Zahl ein paar Schritte machen, ehe sie wieder vom Feld geworfen werden. Das Spielfeld selbst ist seltsam allgemein ins Auge gefasst als eine Landkarte ohne irgendwelche Ortsangaben. Ab und zu fallen geographische Begriffe wie Himmelsrichtungen, beispielsweise Wien, Polen oder Meer, es ist jedoch den Lesern überlassen, wie sehr sie diese Angaben mit eigenen Bildern unterlegen.

christine vescoli, mutternichtsMutterliebe, Mutterschutz, Mutterwitz – mit allem ist in der Literatur zu rechnen. Aber Mutternichts? Ein irritierender Titel wie alles, bei dem das Nichts die Hauptrolle spielt. Christine Vescoli versucht sich an einem erzählerischen Kunststück, sie lässt eine Ich-Erzählerin über die Mutter reflektieren. Und obwohl es in der Erinnerungsliteratur hunderte von Schablonen für Mutter-Gedenken gibt, steht sie vor dem Nichts. „Mutter zieht sich ins Nichts zurück.“ (7)

Die Ausgangslage ist entsprechend fatal. Sobald die Erzählerin mit dem Begriff Mutter konfrontiert wird, ist keine Person mehr dahinter sichtbar, visiert sie aber die Person an, ist der Mutterbegriff weg. Diese wechselseitige Ausblendung von Sichtweisen kumuliert zu einem beinahe haptischen Nichts. „Das Nichts war zeitlebens im Rücken der Mutter, war allumfassend und doch nie greifbar.“

andreas niedermann, alte schuleDer Dichter ist in die Berge abgehauen und gilt als verschollen, das Publikum ist ungeduldig, es hat zwei Bücher über schwere Helden-Entgleisung gelesen und will wissen, wie die Geschichte zu Ende geht. Die Heldin „Blumberg 3“ sitzt in der Psychiatrie und und bietet in hellen Momenten an, ihr kriminelles Leben fertig zu erzählen. – Eine ideale Ausgangsposition für einen Roman, als ein Verleger den erlösenden Schreibauftrag vergibt, um endlich alle von der Last der nicht-erzählten Geschichte zu erlösen.

Andreas Niedermann lässt das Konzept für seinen „Roman noir“ knapp durchschimmern als eingedampfte Literaturtheorie: „Bücher entstehen aus Büchern, Leben und Lügen.“ (86)

dominika meindl, selbe stadt, anderer planetWenn das gesellschaftliche Leben eine Inszenierung ist, muss dann nicht auch das Individuum sich selbst inszenieren? Macht es einen Unterschied, ob eine Fassade historisch gewachsen oder von einer KI gestaltet vor der Selfie-Kamera auftaucht? Ist ein absolutes System wie die Volksrepublik China vielleicht ähnlich organisiert wie die für den Tourismus ausgereizte Region rund um Hallstatt?

Dominika Meindl greift als Journalistin und Fiktionsmanagerin (= Autorin) auf den weltweit verbreiteten Plot zurück, wonach in China für einen Tourismus-Park das urtypische Kleinod Hallstatt nachgebaut worden ist. Andererseits findet im nahen Bad Ischl gerade eine kaiserliche Nachinszenierung des Habsburgermythos für das Projekt Kulturhauptstadt 2024 statt.

robert kleindienst, das lied davonWenn jemand eine wortlose Kindheit erfahren hat, wie soll er später davon erzählen? Robert Kleindienst nimmt sich das Schicksal seines Vaters zu Herzen, der einst ziemlich wortlos im Tiroler Oberland bei einer Pflegefamilie aufgenommen und bald darauf in die berüchtigte Bubenburg im Zillertal gesteckt worden ist. Später in Salzburg ist er dann ein geschätzter Musiker geworden, der den Ton der Wortlosigkeit beim Publikum getroffen hat. Offensichtlich lässt sich die Sprachlosigkeit der Nachkriegszeit später mit Musik überwinden.

Der Roman „Das Lied davon“ ist vorerst eine späte Versöhnung des Herumgestoßenen mit der Tiroler Erziehungsluft. In seiner Behutsamkeit stellt er freilich auch ein Muster dar, wie man über eine schwere Kindheit erzählen könnte, ohne dass dabei die einzelnen Sätze zugespitzt abermals verletzend werden.

kurt lanthaler, vorabbericht in sachen der zona cesariniEine Biographie wird umso genauer, je mehr Abschweifmöglichkeiten und Seitenthemen sich entlang des Heldencharakters entwickeln.

Kurt Lanthaler gilt als Meister der „Delta“-Beschreibung. Im Roman „Das Delta“ (2007) verliert sich ein Held im Zwielicht des Po-Deltas, feste Materie geht in Schlamm über, Lungenatmung weicht über Kiemen-Konstrukte aus, der Erzählfaden geht verloren, während sich Geschichten um einen schwimmenden Erzählstandpunkt versammeln.

Im „Vorabbericht in Sachen der Zona Cesarini“ bringt Kurt Lanthaler diese vage Erzähllage zur Perfektion, indem er zwischen Argentinien und Italien, den Zauberkünsten Zirkus und Fußball, und den fixen Heldenposen und entgleisten Fan-Gesten einen „Vorbericht“ installiert. Das Genre Roman lässt er dabei nur gelten, wenn es „hinten offen bleibt“, wie man so schön über das literarisierte Leben sagt.

willem elsschot, tschipSelbst ein Klassiker muss ununterbrochen gepflegt und gegen das Vergessen gebürstet werden. Aufwändig wird diese Pflege, wenn es dazu einer Übersetzung bedarf, die den Ansprüchen von Zeitgeist und Sprachentwicklung entspricht.

Die Leipziger Buchmesse 2024 mit dem Schwerpunkt Niederlande und belgisches Flandern lässt allenthalben die Frage hochkommen: Wer sind die großen Drei der belgischen Literatur? Die Antwort schickt einen sofort an die Regale, um diese zu durchkämmen auf der Suche nach Georges Simenon, Hugo Claus und Willem Elsschot.

„Tschip“ ist ein schmaler Klassiker der grotesken Unterhaltungsliteratur aus dem Jahre 1934. Ein gutsituierter Erzähler beschließt nach jeder Dienstreise hinaus in die weite Welt, zu Hause in Antwerpen sesshaft zu werden und sich für ewig in seinem Haus-Büro einzurichten. Als er sich wieder einmal zu Hause ausstreckt, wird er von einer seltsamen Störung des Hausfriedens heimgesucht.