Waltraud Mittich, Hierorts.Bleiben

h.schoenauer - 16.07.2025

Waltraud Mittich, Hierorts.BleibenSelbst der rastlose Überflug durch Zeit und Raum hat im Augenblick seiner Gegenwart fixe Koordinaten, die eine „Heimat“ beschreiben. Geprägt ist dieser Augenblick durch dieses magisch zusammengeschmolzene Schlüsselwort „Hierorts.Bleiben.“

Waltraud Mittich benützt „Hierorts.Bleiben“ als Daumenabdruck auf einer Landkarte der Erinnerung. Als Erzählerin fungiert ein im Jetzt schreibendes Kind, das vielleicht in den 1950er Jahren in einer Wiese bei Toblach liegt und die Familiengeschichte als bunte Schmetterlinge über den Handrücken flattern lässt.

Der Roman stellt im „Prefazio“ die Ausgangslage klar. „Die Erzählerin der vorliegenden Geschichten hat DAS DORF schon seit ihrer Kindheit als böhmisches Dorf ausgelegt. […] Das Dorf Tobla als böhmisches ist in den folgenden Geschichten konkreter Wohnsitz der beschriebenen Familie.“ (7) 

In der Folge sind aus einem imaginierten Stammbaum einzelne Fall-Geschichten herausgepickt, die zeigen, wie sich die einzelnen Personen von Tobla hinaus bewegen konnten in die Welt, ehe sie wieder von diesem Hierorts.Bleiben als Magnat zurückberufen wurden zu den Wurzeln der Identität.

Als Mustergeschichte dieses Erzählens dient das Schicksal des Pater Siegfried (Mittich), der aus einem Fotoalbum herausblickt und als Inspiration für eine Assoziationskette dient. Das Kind blickt in die Fotografie und hat jene Erzählfetzen in den Ohren, die die Verwandten von sich geben, wenn sie vom Pater Siegfried sprechen. Dieser ist in Bolivien als Franziskaner tätig und stirbt mit 67 in Santa Cruz de la Sierra. Zu Hause in Tobla veranstaltet man 1952 einen Sterbegottesdienst, der sein Schicksal wieder der Heimat zuführt. Das Kind pendelt in seinen Vorstellungen zwischen Toblach und Bolivien hin und her und malt sich die Familiengeschichte um den verwandten Pater als eine große Geschichte aus, wie man sie sonst von Europa kennt.

Das ist vielleicht der rote Faden des Romans. Der Ursprung der europäischen Geschichte mit ihren Vertreibungen und Völkerwanderungen liegt 1618 in einem böhmischen Dorf, wo sich über den zweiten Prager Fenstersturz zuerst der Dreißigjährige Krieg entwickelt und später die Tragödie Europas, das ständig mit sich selbst herumirrt und nicht zum Hierorts.Bleiben kommt.

Alle Partikel unserer Familiengeschichten lassen sich aus diesem roten Faden ableiten, so die Erzähl-Theorie. – Der Kern Europas liegt für eine Weile während des Nachdenkens und Aufschreibens in einer Wiese in Toblach und trägt den rätselhaften Namen „Conca“. Damit ist eine Parzelle gemeint, die zu einer Heimat zwischen allen Sprachen auswachsen ist.

„Ja die Parzellen, sie müssen noch warten, sind anscheinend nicht nur Parzellen, sondern schicksalshafte, lebensbestimmende Grundstücke. Denn zuerst müssen Räume in Erinnerung gerufen werden, das Haus ist zu erzählen, die Kammern, die Stiegen, und wie es roch das Haus.“ (52)

Vom anderen Ende der Welt aus, diesmal aus der Bukowina, schreibt ein anderer Verwandter nach Hause, dass man sich nicht vorstellen könne, was in Czernowitz los sei. Er sei auf seiner Handwerker-Tour an die Grenzen der Welt und der Monarchie gekommen.

In einem weiteren Erinnerungsstrang treten Castellane auf in seltsamen Gebäuden, und Frauen, die sich der erwarteten Unterwürfigkeit in den Weg stellen. ‒ Die erinnerten Personen stehen offensichtlich untereinander in einem ständigen Kontakt, nur ab und zu treten ihre Impulse an die Öffentlichkeit wie blank gewetzte Isolierungen eines Schaltkreises. Die Erzählerin horcht diese Geschichten ab wie eine Ärztin das aufgeregt atmende Kind.

Allmählich kommt dieses Konstrukt von Imagination an sein Ende und hinterlässt die Erzählerin zweifelnd, vielleicht ist ja alles eine Täuschung.

„Weil viele Menschen sich selbst bewusst täuschen, was ihr Leben betrifft, glaubt die im Jetzt Schreibende, dass es wichtig ist, das Leben der Familie zu hinterfragen. Damit man beim nächsten Wetterleuchten des Zukünftigen nicht mit leeren Händen dasteht.“ (101)

Der Epilog hat etwas aufwühlend Beruhigendes an sich wie das sanfte Gesetz bei Adalbert Stifter. „Wir Menschen denken nicht in Fakten, sondern in Geschichten. […] Aus jeder kleinen Familienanekdote lässt sich die große Geschichte herauslesen, der Geist der Zeit.“ (104)

Der Geschichte kann man sich ohnehin nicht entziehen. Denn wer die überlieferten Sätze vernichten wollte, würde abermals an den Kreuzungen falsch abbiegen und über die eigenen Traumata stolpern. Als Konsequenz bleibt: „Bleibm.“ (110)

Waltraud Mittich, Hierorts.Bleiben. Roman
Innsbruck: Edition Laurin 2025, 112 Seiten, 20,00 €, ISBN 978-3-903539-48-8

 

Weiterführende Links:
Edition Laurin: Waltraud Mittich, Hierorts.Bleiben
Wikipedia: Waltraud Mittich

 

Helmuth Schönauer, 26-05-2025

Bibliographie
Autor/Autorin:
Waltraud Mittich
Buchtitel:
Hierorts.Bleiben
Erscheinungsort:
Innsbruck
Erscheinungsjahr:
2025
Verlag:
Edition Laurin
Seitenzahl:
112
Preis in EUR:
20,00
ISBN:
978-3-903539-48-8
Kurzbiographie Autor/Autorin:
Waltraud Mittich, geb. 1946 in Bad Ischl, 1952 Übersiedlung nach Südtirol, lebt in Bruneck.