Reinhard Wegerth, Der große grüne Atemstreik

h.schoenauer - 19.09.2025

Reinhard Wegerth, Der große grüne AtemstreikDamit Wissenschaft glaubhaft erzählt werden kann, bedienen sich ihre Vermittler oft der Romanform. In einem Roman nämlich unterliegen die Thesen des Labors einem Elchtest, indem die Leser ungeniert selbst überlegen dürfen, ob das Erzählte über die Fiktion hinaus glaubhaft ist.

Reinhard Wegerth hat vor Jahrzehnten so etwas wie den grotesken Essay als Genre entwickelt, Dabei werden wissenschaftliche Thesen in eine Geschichte verpackt, die dem populären Sciencefiction nicht unähnlich ist. Das besondere dieser Erzählweise ist die Distanz zum jeweiligen Zeitgeist, auch wenn dieser die Themen vorgibt. ‒ Die Grundfragen der Menschheit, nämlich ihr Sinn und die Notwendigkeit der Reproduktion ist zumindest seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten gleich aktuell.

Im Roman „Der große grüne Atemstreik“ entschlüsseln Forscher die Sprache der Pflanzen und belauschen sie bei einem ungeheuren Vorgang: Die Pflanzen wollen in Atemstreik treten und so die Welt in ein Desaster stürzen. Die Pflanzen sprechen übrigens „blumig“, was sie in die Nähe zum politischen Beruhigungs-Sprech bringt.

Hintergrund für diese Kraftprobe ist die Auseinandersetzung mit der Atomkraft. Wenn diese die Energiegewinnung der Pflanzen durch Sonnenlicht ersetzen sollen, dann stellen diese eben ihre Leistung ein. Die Sprache der Pflanzen gilt übrigens als tote Sprache, ein Zeichen, dass der Streik gelungen ist.

Um den Ausfall der Umwelt zu kompensieren, werden für die Menschen Folien erfunden, die mit verschiedenen Programmen bespielt werden können. Dabei wird nicht nur die Hautatmung ersetzt, auch haptische Grundgefühle, die etwa für Sex notwendig sind, lassen sich ersetzen, was in der Folge zu Lustlosigkeit und asexuellem Verhalten führt. Tatsächlich scheint die Menschheit auszusterben, weil sich niemand mehr lustlos vermehren will.
Das Problem der aussterbenden Menschheit, das aus dem Weltraum beobachtet wird, kommt auf einer Luxusjacht namens Kapital zur Sprache. Dabei steuert sie ein entlegenes Eiland an, auf dem sich Aussteiger der Vernichtung durch die brutale Wirtschaftswelt entzogen haben.

Ein Pärchen auf der Jacht hat genug vom Foliensex und will es mit einem echten Kind versuchen. Zu diesem Zweck springen sie über Bord und fliehen auf die Wunder-Insel, auf der alles noch nach alter Methode zu funktionieren scheint.

Das Aussteigerparadies braucht freilich eine große Erzählung, um den Bewohner Sinn und Frieden zu vermitteln. Eine Art Upgrade der Atlantis-Saga gibt den letzten Sinn-Kick, der nirgendwo in der ausufernden Globalisierung und Anonymisierung zu sehen ist.

Das Kind der Aussteiger entpuppt sich als großes Versprechen, die Welt wieder einmal zu retten. Es verlässt die Insel und schwimmt als Migrant an die Küste Europas, das von außen gesehen als Paradies gehandelt wird.

Das letzte Kapitel wird in Ich-Form erzählt, „mein Name ist Junior“. Autor und Leser vereinen sich zu dieser Ich-Form und erleben einen Gap in die neue Welt. Die Flucht von der Insel führt zu Bewusstlosigkeit und Vergessen der Vergangenheit. Für die Zukunft steht alles neu und undefiniert parat. Das kollektive Ich erwacht vor der Küste treibend und hält sich alles offen. Der große grüne Atemstreik hat jedenfalls die Welt verändert.

Reinhard Wegerth erzählt in grotesken Sequenzen vom Abenteuer Wissenschaft, das letztlich an der Realität vorbei in eine eigene Wissenschaftsblase hinein driftet.

Die Protagonisten sind Anleger, Forscher, Kapitalisten, Zukunftsgläubige und Aussteiger, für die eines gewiss ist: In dieser durch-getakteten Welt können sie nicht zusammenleben. Aussterben ist die eine Option, Neustart die andere.

Zur Erzählkunst des Romans gehört es, dass er im Idealfall unabhängig vom Fortgang der Welt wie ein Messer wirkt, das die Themen aufschneidet. Der große grüne Atemstreik ist 1985 erstmals erschienen und wirkt, wie wenn er erst heute auf den Markt gekommen wäre.

Der Weltraum ist mittlerweile genauso privatisiert wie vorhergesagt, das Pflanzenleben ist zwar teilweise entschlüsselt, gleichzeitig aber haben sich diese Wesen vom Planeten zurückgezogen.

Alternativen treiben wie Atlantis im Meer des Vergessens herum, ab und zu probiert es einer und geht am alten Kontinent an Land.

Das Analoge ist längst unter einer Folie verschwunden, die alles als künstliches Ereignis erscheinen lässt, zusammengehalten und gesteuert von künstlicher Intelligenz.

Der Roman endet mit einem kleinen Rätsel, dabei soll aus veränderten Schlüsselwörtern ein neuer Begriff gebildet werden. Die Erkenntnis ist eine zweifache.

Erstens - Nur wer sich um das Rätsel bemüht, kann es lösen.
Zweitens – Der Roman, aufgebaut als Rätsel, bleibt auch nach der Lektüre klug und rätselhaft.

Mit etwas Glück kann 2065 diese Rezension für die Drittausgabe des Romans verwendet werden, wenn dieser in vierzig Jahren abermals in ewiger Frische erscheint.

Reinhard Wegerth, Der große grüne Atemstreik. Roman, Nachwort von Daniel Wisser
Klagenfurt: Sisyphus Verlag 2025, [Erstausgabe Edition S, Wien 1985] 130 Seiten, 15,00 €, ISBN 978-3-903125-98-8

 

Weiterführende Links:
Sisyphus Verlag: Reinhard Wegerth, Der große grüne Atemstreik
Wikipedia: Reinhard Wegerth

 

Helmuth Schönauer, 07-06-2024

Bibliographie
Autor/Autorin:
Reinhard Wegerth
Buchtitel:
Der große grüne Atemstreik
Erscheinungsort:
Klagenfurt
Erscheinungsjahr:
2025
Verlag:
Sisyphus Verlag
Seitenzahl:
130
Preis in EUR:
15,00
ISBN:
978-3-903125-98-8
Kurzbiographie Autor/Autorin:
Reinhard Wegerth, geb. 1950 in Neudorf bei Staatz, lebt in Mödling.