Delle Cave / Hanni (Hrsg.), Lyrik im Gespräch
Was trocken unter dem Titel Dokumentation läuft, ist vielleicht die aufregendste Lyrik-Sammlung des ganzen Jahres.
Die Stadt Meran hat es mittlerweile geschafft, einer der größten Lyrik-Knotenpunkte der Gegenwartsliteratur zu werden. Angeregt durch den alle zwei Jahre ausgerufenen Lyrikpreis Meran sind in den letzten zwanzig Jahren etwa 50.000 Texte in den Süden des deutschen Sprachraums geschickt worden, etwa tausend dieser Texte kamen zur Aufführung, die Preisträger kommen in dieser Dokumentation mit ihren Siegertexten zu Wort.
Man merkt es den Gedichten an, dass sie die Creme einer gigantischen Melange sind, individuell, einzigartig, zeit-prägend.
In einer Art "Gebrauchsanweisung" gibt Christoph Buchwald neun Handreichungen, wie man Gedichte lesen könnte.
Mit Gedichten ist es ähnlich wie mit Jazz: häufiger Umgang erhöhen [sic!] das Vergnügen und die Orientierung erheblich. (15)
Unter den Ausgewählten finden sich Kaliber wie Kurt Draewert, Kathrin Schmidt, Sepp Mall, Lutz Seiler oder Oswald Egger.
Herzwechsel // aus meinen kindern werden frontgeburten / im kahlen rückblick. die geschosse / ziehn aus dem schleim zurück ins eingemachte. ein böser bub, der dir ins leibchen stieg, / besorgt den späteren etappensieg.[...] (38)
In Kathrin Schmids Gedicht aus dem Jahr 1994 kommt es zu einem offenen Gefühlswechsel. Eine Frau verändert ihr Wertesystem und zieht gegen die falschen Gefühle in den Krieg. Oft sind es solche Gedichte, die eine ganze Gefühlslage aus einem Jahr zusammenfassen.
Zwei Jahre später heißt es 1996 in Sepp Malls wundersamer Lyrik:
Wo ich herkomme / ist der Winter keine Jahreszeit / sondern ein Zustand / die im Speichel fest- / gefrorenen Zungen / lösen sich einmal im Jahr / Wie / soll ich erklären / was mir ein Wort bedeutet / wie Frühling / Die Tiere / die über die Erde ziehn / und sterben / ohne Laut / stehn uns am nächsten / Und die Dinge / unverrückbar / in ihrem Schweigen / singen dein Lied (49)
Der Herausgeber dieser Dokumentation, Ferruccio Delle Cave, beschreibt, wie es zu diesem mittlerweile unverzichtbaren Lyrik-Festpunkt gekommen ist. Dabei wird an den Gründer Alfred Gruber gedacht, der aus all seiner literarischen Skurrilität heraus pfeilgerade etwas Zeitloses initiiert hat: Den Lyrikpreis Meran.
In einer beigelegten CD sind die Autoren lebhaft mit ihren Gedichten bei der Originalpräsentation zu hören. An einigen Stellen war die Originalaufnahme vom Südtiroler Alltags-Sound freilich so versaut, dass diese Gedichte neu nachgesprochen werden mussten.
Ferruccio Delle Cave / Martin Hanni (Hg.), Lyrik im Gespräch. Der Lyrikpreis Meran. Eine Dokumentation. Audio-CD.
Wien: Folio 2010. 120 Seiten. EUR 19,90. ISBN 978-3-85256-530-9.