Andrej Gelassimow, Durst

Buch-Cover

Bei einem Weltroman ist schon nach dem ersten Satz klar, dass es hier um Leben und Tod geht. Durst ist so ein Weltroman, der eine Epoche beschreibt und gleichzeitig die Kraft des Erzählens neu verteilt.

"Es passte einfach nicht der ganze Wodka in den Kühlschrank." (9) Schon mit dem ersten Satz macht Andrej Gelassimow klar, dass seine Helden nicht mit der gewöhnlichen Welt zurechtkommen. Und tatsächlich hat Kostja, ein Veteran des Tschetschenien-Krieges, ein weggesprengtes Gesicht und sieht so furchterregend aus, dass er nur noch als Kinderschreck für Kinder, die nicht zu Bett gehen wollen, eingesetzt werden kann.

Bei einem Angriff auf seinen Panzer ist er als letzter gerettet worden, weil man ihn für tot gehalten hatte.

Ich sah sie an und dachte: Warum ist es mir so ergangen? Warum verbrennen die einen, und die anderen werden rausgezogen? Warum haben jetzt andere Kinder den Vater, den ich einmal hatte? (53)

Kostja hat früh zu zeichnen gelernt, in der Militärschule bei einem über-durstigen Offizier. Dieser hat ihm aber mitten im Suff beigebracht hat, dass man wichtige Fragen stellen muss, während man etwas abbildet oder sich ein Bild von was macht. So kann sich Kostja zwar allerhand erklären, über das Trauma seiner Verwundung kommt er nicht hinweg.

Zu tun gibt es letztlich gar nichts, außer ab und zu Kinder zu erschrecken und eine Wohnung zu renovieren. Die einzige Abwechslung bringen zwei ehemalige Mit-Krieger, die ein paar Wochen lang nach Moskau fahren, um ein ehemaliges Arschloch aus dem Tschetschenienkrieg zu suchen. Kostja fährt mit und rechnet bei dieser Gelegenheit mit seinem Vater ab, der das Kriegssystem repräsentiert.

Ich bin nicht dein Sohn. Dein Sohn wurde in Grosny getötet, als unser Panzer ausbrannte. Ich bin ein anderer Mensch. Der Junge, der Angst vor dir hatte, ist im Panzer geblieben. (86)

In Andrej Gelassimows Panoptikum schrecklicher und verschreckter Typen haben alle ihren Defekt. Der eine hat eine perfekte Philosophie über den Durst (mein Organismus braucht Flüssigkeit), der andere sucht aus einer Laune heraus einen Typen aus früheren Tagen, ein dritter hat eine mathematische Formel für das Stapeln von Wodkaflaschen, und selbst der jüngere Bruder des Verunstalteten hat als Hausaufgabe auf, überall die Mehrzahl zu bilden.

Andrej Gelassimow erzählt in einer knappen skurrilen Form voller Logik, dabei beschreibt er eine Gesellschaft, die sich nur noch mit unsinnigen Handfertigkeiten über Wasser halten kann. Diese anarchistische Erzählform, halb Militär-Slang, halb bürokratischer Outcast, gibt dem Unerzählbaren eine nachvollziehbare Sprache. Dieser Autor stellt wie sein Held die wahnsinnigen Fragen, während er abbildet!

Andrej Gelassimow, Durst. A. d. Russ. von Dorothea Trottenberg. [Orig.: Zazda, Moskau 2002].
Frankfurt/M: Suhrkamp 2011. ( = es 2624 ). 112 Seiten. EUR 12,40. ISBN 978-3-518-12624-0.

Andrej Gelassimow, geb. 1965 in Irkutsk, lebt in Irkutsk.

Helmuth Schönauer, 22-04-2011

Bibliographie

AutorIn

Andrej Gelassimow

Buchtitel

Durst

Erscheinungsort

Frankfurt

Erscheinungsjahr

2011

Verlag

Suhrkamp

Seitenzahl

112

Preis in EUR

12,40

ISBN

978-3-518-12624-0

Kurzbiographie AutorIn

Andrej Gelassimow, geb. 1965 in Irkutsk, lebt in Irkutsk.

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