Dragana Mladenovic, Verwandtschaft

Buch-Cover

Das vage Wort Verwandtschaft löst je nach Mentalität Bedrohung oder Geborgenheit aus. In der kleinbürgerlichen Einzeller-Gesellschaft gelten die Verwandten freilich fix als Bedrohung, nicht umsonst gibt es die Faustregel: Wenn die Verwandten kommen, musst du vor dir selbst fliehen!

Dragana Mladenovic spricht in ihrem beinahe als Erzählung ausgelegten Gedichtzyklus die Verwandtschaft auf zwei Ebenen an. Zum einen ist es die biologische Verbundenheit gewisser Clans, zum anderen ist es die große Verwandtschaft innerhalb des Staates.

So kommt ein serbischer Familienzweig zur Artikulation, darin ist alles Staats-tragende ziemlich heruntergekommen, die vielen Onkels sind verstört und aus der Bahn geworfen und feilen an Entwürfen, wie man wenigstens die glorreiche Vergangenheit halbwegs in die Erinnerung retten könnte. Gleichzeitig bereiten sich alle auf eine heroische Schlacht vor, die sie aber nur vage umschreiben können.

41.// onkel voja ist ein jähzorniger mensch / so / besessen / von heldentum und heimat / dass er alle / stumpfen gegenstände schleift / um für die große schlacht / bereit zu sein (53)

Diese große serbische Verwandtschaftsgeschichte wird in einundsechzig Episoden abgehandelt, fast sind es Kalendergeschichten zu einer patriotischen Chronologie.
Im mittleren Teil wird eine lyrische Figur verhört und gleichsam in unpatriotische Teile aufgespalten.

waren sie im krieg: nein / was haben sie dann gemacht: brände gelöscht / gab es welche: es gibt immer welche / feuer: und rauch (81)

An dieser Stelle ahnt man, dass im Sinne Kafkas eine gute Bürokratie jedes Gedicht zerlegen kann. Gegen den Greifarm der Obrigkeit hilft keine lyrische Wendung.

Im dritten Teil schließlich ist eine bosnische Familie nach Amsterdam ausgewandert und wird von der Vergangenheit am Balkan täglich aufgesucht.

Weit weg / vom vater her ein verbrecher / von der mutter her ein opfer / oh wie ich den balkan / satt habe / die auseinandersetzungen / das leugnen / die kriege und friedensschlüsse // ich studiere die landkarte / noch wie viele kilometer / new york / sumatra / china / flüchten / weit weg / wie weit / noch / es verfolgt mich (139)

Dragana Mladenovic hält ihre Gedichte mehrdeutig offen, je nach Bewusstseinslage des Lesers lassen sich darin politische, soziale und historische Schichten ausmachen, während an der Oberfläche jedes Gedicht friedlich drein schaut wie ein Maulwurfshügel. Aber diese semantischen Bohrungen unter der Haut der Zeilen haben es in sich. Das ist politische Lyrik am Höhepunkt des Bewusstseins und heftige Lyrik obendrein!

Dragana Mladenovic, Verwandtschaft. Rodbina. Serbisch und deutsch, a. d. Serb. von  Jelena Dabic. [Orig.:Rodbina. Beograd 2010].
Wien: Edition Korrespondenzen 2011, 145 Seiten, 16,00 €, ISBN 978-3-902113-75-7

 

Helmuth Schönauer, 14-04-2011

Bibliographie

AutorIn

Dragana Mladenovic

Buchtitel

Verwandtschaft

Originaltitel

Rodbina

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2011

Verlag

Edition Korrespondenzen

Übersetzung

Jelena Dabic

Seitenzahl

145

Preis in EUR

16,00

ISBN

978-3-902113-75-7

Kurzbiographie AutorIn

Dragana Mladenovic, geb. 1977 in Frankenberg, lebt in Beograd.

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