Christian Futscher, Marzipan aus Marseille

Kluge Poesie ist alltagstauglich und grenzenlos, man weiß bei ihr nie, wo sie beginnt und wo sie aufhört.

Christian Futschers Gedichte „spielen“ in diesem Raum zwischen Poesie und Gebrauchsanweisung des Alltags, dabei kann quasi zu jeder Tageszeit an jedem Ort das lyrische Ich auftreten und seine Sprache zu einem etwas anderen Zustand verdichten.

Schon in der Präambel wird dieses Konzept der ungewöhnlichen Gewöhnlichkeit deutlich. Mit der größten denkbaren Formel für das Banale, nämlich etwas sei für Hinz und Kunze, werden die beiden Lyriker Ide Hintze und Reiner Kunze angerufen. Beide dichten nämlich, und das lyrische Ich will da mithalten

Warum sitze ich denn nicht viel öfter / Völlig nüchtern an einem Tisch / Und dichte / dass sich die Tischplatte biegt? (14)

Was hier als Ermunterung für das eigene Schaffen gedacht ist, ufert schon in den nächsten Zeilen zu einem sogenannten schiefen Nachtgebet aus.

Oft setzt sich das lyrische Ich mit sich selbst auseinander, ermuntert sich, hängt sich das sprichwörtliche Würstchen vor die Nase, um mit Geduld von der Trivialität abzulenken und sich selbst in ein Gedicht zu führen.

Dabei entstehen poetische Kommandos und Beschreibungen wie Frühling bei Fuß, Flotter Dreier am Vormittag, Götter an die ich glaube oder Lebenszeichen eines Altweibersommers.

Manchmal wird ein Poet angerufen, wenn er Wertvolles für die Lyrik geleistet hat, wie beispielsweise Gerhard Bisinger, der für seine Zustandsgedichte weltberühmt ist. Das Wichtigste in dessen Lyrik ist das Datum und der Pegel des Alkohols, bei dem das Gedicht entstanden ist, der Rest ist nur noch Überschrift und Beiwerk.

Das Titelgebende Marzipangedicht aus Marseille ist aus ungeordneten Gedankengängen zusammengefügt. An der entscheidenden Stelle halten Zöllner das mitgebrachte Marzipan für gut getarntes Koks, zumal das Marzipan von hervorragender Qualität ist.

Leichte Missverständnisse liegen so gut wie allen Texten zugrunde. Von der japanischen Form des Haikus ist nur eine vage Erinnerung übrig geblieben, in welche zufällig ein Inhalt gegossen wird, der aber beim Haiku keinen Schaden anrichtet.

Offenes Fenster // Haiku // Im Hof kommt Müll weg / und in der heißen Dusche / auch der Urin rinnt (139)

Durch die Dekonstruktion des poetischen Ernstes können sich manche Gedichte unglaublich leicht entfalten und hinterlassen im Leser einen bleibenden Eindruck, wenn sie in Schräglage in sein Bewusstsein fräsen.

In einem Anflug von Novemberkraft entwickelt das lyrische Ich vier starke Erektionen am Stück ehe es die entscheidende Frage eines Freundes beantwortet:

Was willst du noch erreichen / in diesem Leben? // Ein Gedicht schreiben / das bleibt. (146)

Christian Futscher, der Meister das nachbohrenden Unfugs, tranchiert gekonnt seine eigenen Gedichte, nachdem er diese vorgeblich als Stückgut serviert hat. Erst wenn die Gedichte an ihren Sollbruchstellen zerfallen sind, lassen sich die Gräten ausnehmen, die oft heftig eingeknetet sind wie bei echtem Marzipan aus Marseille.

Christian Futscher, Marzipan aus Marseille. Gedichte.
Wien: Czernin 2013. 188 Seiten. EUR 19,90. ISBN 978-3-7076-0445-0.

 

Weiterführende Links:
Czernin-Verlag: Christian Futscher, Marzipan aus Marseille
Wikipedia: Christian Futscher

 

Helmuth Schönauer, 27-03-2013

Bibliographie

AutorIn

Christian Futscher

Buchtitel

Marzipan aus Marseille

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2013

Verlag

Czernin-Verlag

Seitenzahl

188

Preis in EUR

19,90

ISBN

978-3-7076-0445-0

Kurzbiographie AutorIn

Christian Futscher, geb. 1960 in Feldkirch, lebt in Wien.

Themenbereiche