Alphabetisierungskurse für MigrantInnen, Teil 1

Mit der Neuregelung der Integrationsvereinbarung seit Anfang 2006 sind in Österreich Kenntnisse der deutschen Sprache für Migrantinnen und  Migranten verpflichtend vorgeschrieben. Für jene TeilnehmerInnen der Deutsch-Integrationskurse die das lateinische Alphabet nicht beherrschen oder nicht schreiben können, ist zunächst ein Alphabetisierungskurs verpflichtend vorgeschrieben, um Lesen und Schreiben zu lernen.

Die seit 1. Jänner 2006 in Kraft getretene Integrationsvereinbarung hat bereits im Vorfeld für heftige Diskussionen gesorgt. Dabei standen vor allem die Zwangsverpflichtung zum Besuch des Deutsch-Integrationskurses und die drohenden Sanktionen bei einem Misserfolg im Mittelpunkt der Kritik. Ihre Befürworter sehen im Beherrschen der Landessprache die  Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Integration. Folgende Lernziele der Deutsch-Integrationskurse werden in der Verordnung der Bundesministerin für Inneres u.a. genannt:

[...] Die Lernenden sollen nach Abschluss des Kurses in Alltagssituationen situations-adäquat agieren und reagieren können. Darüber hinaus sollen sie in der Lage sein, eigene Bedürfnisse und Meinungen zu vertrauten Themen zu äußern.

Die Lernenden sollen in der Lage sein, über vertraute Themen mit ausreichendem Wortschatz zu kommunizieren, Auskünfte zur eigenen Person (z.B. Herkunft, Ausbildung usw.) zu geben und von Kommunikationspartnern und -partnerinnen einzuholen. Sie sollen über ihre direktes Umfeld und Mitmenschen Auskunft geben können, Vorlieben und Abneigungen ausdrücken und erklären können, um Hilfe bitten und über Vergangenes sprechen können. Sie sollen in der Lage sein, deutlich artikulierter Standardsprache in normalem Sprechtempo zu folgen. [...]
Integrationsvereinbarungs-Verordnung - IV-V, S.3

Einrichtungen wie z.B. das „AlphaZentrum für MigrantInnen“ an der Volkshochschule Ottakring kritisieren, dass "die Last des Integrationsprozesses einseitig den ImmigrantInnen aufgebürdet" wird und bemerken:

Aber bessere Deutschkenntnisse führen nicht automatisch zu besserer Integration; sie können Integration auf wirtschaftlicher, sozialer und demokratiepolitischer Ebene nicht ersetzen. Verpflichtungen und Sanktionen sind aus sprachpädagogischer Sicht kontraproduktiv und daher abzulehnen.
AlfaZentrum: Stellungnahme zur Integrationsvereinbarung, S. 1

Am vorgeschriebenen Alphabetisierungskurs, dem Modul 1 der Integrationsvereinbarung, wird vor allem die fehlende Nachhaltigkeit kritisiert:

Alphabetisierung in 75 Unterrichtsstunden und in einem Jahr ist für die Mehrzahl der Zielgruppen nicht realistisch durchführbar. Nach unseren Erfahrungen (die durch Modelle und Erkenntnisse aus anderen Ländern bestätigt werden) ist je nach Voraussetzung, Lebensumständen und Lernzielen für die Betroffenen von einem Umfang von 200 bis 400 Unterrichtsstunden und einem Zeitraum von 2-4 Jahren auszugehen.
AlfaZentrum: Stellungnahme zur Integrationsvereinbarung, S.2


In Tirol werden Alphabetisierungskursen von verschiedenen Einrichtungen wie dem Berufsförderungsinstitut (bfi), dem Wirtschaftsförderungsinstitut (Wifi) und der Volkshochschule angeboten. Lesen in Tirol hat die Volkshochschule in Innsbruck besucht und mit die Leiterin der VHS Dr. Sylvia Caramelle, Mag. Christine Bitsche und der Leiterin der Alphabetisierungskurse in Innsbruck Mag. Beatrix Cardenas-Tarillo über ihre bisherigen Erfahrungen mit den Alphabetisierungskursen interviewt.

 

Teil 1



Lesen in Tirol: Seit wann bietet die Volkshochschule in Tirol Alphabetisierungskurse für MigrantInnen an?

Silvia Caramelle: Begonnen wurde mit der Einrichtung von Alphabetisierungskursen in Folge der Integrationsvereinbarung, als man rasch bemerkt hat, dass der Besuch von Deutschkursen allein nicht ausreichend ist. Vielen der KursteilnehmerInnen war das lateinische Alphabet fremd oder sie waren überhaupt AnalphabetInnen, wobei hier Frauen den überwiegenden Anteil ausmachten.

In der neuen Integrationsvereinbarung, die seit 1.1.2006 in Kraft ist, sind Kurse für AnalphabetInnen mitberücksichtigt worden, die den Deutschkursen vorangehen sollen. Für alle MigrantInnen, die nach 1997 nach Österreich gekommen sind, ist die Einhaltung der Integrationsvereinbarung gesetzlich verpflichtend vorgeschrieben.

Christine Bitsche: Im Wintersemester 2003 haben wir zum erstenmal einen Alphabetisierungskurs für MigrantInnen durchgeführt. Die meisten TeilnehmerInnen besuchen deshalb die Kurse, weil diese durch die Integrationsvereinbarung verpflichtend vorgeschrieben sind.

Der günstige Preis, zu dem wir unseren Alphabetisierungskurs anbieten können, ist nur durch die enge Zusammenarbeit mit dem Land Tirol möglich, das bereit ist, die Kurse, die aus 24 Unterrichtseinheiten bestehen, sehr stark zu subventionieren. Das ist vor allem deshalb wichtig, weil dadurch zumindest die finanzielle Hürde eines Kursbesuches beseitigt werden kann.

Lesen in Tirol: Wie setzen sich die TeilnehmerInnen der Alphabetisierungskurse zusammen?


v.l.n.r.: Dr. Sylvia Caramelle, Mag. Beatrix Cárdenas Tarrillo und Mag. Christine Bitsche sprechen über ihre Erfahrungen aus den Alphabetisierungskursen an der Volkshochschule Innsbruck.
Foto: Markt-Huter

Beatrix Cárdenas Tarrillo: Unsere Kurse werden hauptsächlich von Frauen besucht. Es gibt unter den Emigrantinnen sehr viele Frauen, die das Lesen und Schreiben nicht gut oder zum Teil überhaupt nicht beherrschen. Für sie sind Kurse wie die unsrigen sehr oft die erste Chance etwas lernen zu dürfen. Sie honorieren das, indem sie sich im Kurs ganz besonders engagieren, und es fällt auf, wie ihre Augen im Unterricht vor Wissensdurst geradezu aufleuchten. Es fließt dabei auch sehr viel positive Energie auf die Lehrenden zurück.

Bei den vom Analphabetismus betroffenen Männern handelt es sich zum größten Teil um Arbeiter. Es sind überwiegend bildungsferne Gruppen, die in ihren Herkunftsländern keinen oder sehr eingeschränkten Zugang zur Bildung hatten. Das heißt aber nicht, dass diese Personen unterdurchschnittlich intelligent wären! Es gehört für mich zu den schönsten Seiten an diesen Kursen, dass es möglich ist, Menschen das Alphabet zu vermitteln und ihnen dadurch erstmals den Zugang zum Wissen zu eröffnen. Sie verlassen auf diese Weise ihre bisherige Erfahrungswelt und eröffnen für sich eine neue.

Manche TeilnehmerInnen lernen danach unglaublich schnell und wären in kurzer Zeit in der Lage, ihren Wissensrückstand aufzuholen, wenn man sie nur ließe. Es ist faszinierend zu beobachten, wie positiv sich die Wesensart der TeilnehmerInnen verändern kann. Es gibt Frauen, die zu Beginn des Kurses noch völlig verängstigt waren und im Lauf des Kurses richtig aufblühen. Sie erleben mitunter völlig neu, welche Fähigkeiten in ihnen stecken, und dass sie imstande sind etwas zu lernen. Ich möchte aber nicht verschweigen, dass dadurch auch familiäre Konflikte ausgelöst werden können.

Frauen, die plötzlich lesen und schreiben können und dadurch einen Zugang zur Schrift erhalten, stellen für manche Familien mitunter ein Problem dar. Auch das musste ich im Laufe meiner Erfahrungen als Kursleiterin miterleben.
Lesen und Schreiben zu können hat also sehr wohl auch soziale Auswirkungen und bildet den ersten Schritt weg von der Abhängigkeit.

Silvia Caramelle: Vor dem Hintergrund, dass in vielen Familien oft Widerstand gegen die Alphabetisierung der Frauen besteht, zeigt sich meiner Meinung nach eine positive Auswirkung der Integrationsvereinbarung, die dazu führt, dass auch die Partnerin, also die Frau, dieser gesetzlichen Verpflichtung nachkommen muss.

Die Integrationsvereinbarung lässt sich selbstverständlich sehr differenziert betrachten. Hier schwanken die Meinungen sehr auseinander und reichen von Aussagen, dass es sich um eine unzumutbare Zwangsmaßnahme handele, bis hin zur Meinung, dass sie eine Chance darstelle, die der österreichische Staat den MigrantInnen bietet.

Beatrix Cárdenas Tarrillo: Wenn ich die Angelegenheit aus der Perspektive beurteile, die sich mir im Laufe der Kurse eröffnet hat, kann ich diese Aussagen unterstreichen, vor allem, was die Situation der Frauen betrifft. Natürlich ist Zwang nie etwas Gutes. Viele Frauen haben solche Kurse schon lange besuchen wollen, es wurde ihnen innerhalb der Familie aber bisher verwehrt.

Ich erinnere mich an eine Frau aus Ghana, die die Kurse mit Begeisterung besucht hatte und daraufhin auch den Sprachkenntnisnachweis bestens bestand. Diese Frau hat unglaublich schnell gelernt; sie konnte im Laufe des Kurses ihre Fähigkeiten entdecken und dadurch ein positives Selbstbewusstsein gewinnen. Sie hat sogar damit begonnen, Zukunftsperspektiven und Ausbildungspläne zu entwickeln, bis schließlich von ihrem Mann, dem sie offensichtlich zu selbständig geworden war, die Notbremse gezogen wurde. Als sie den Kurs weiter besuchen wollte, wurde sie von ihrem Mann daran gehindert. Das ist z.B. einer der Fälle, wo es zu Hause zu Konflikten gekommen ist. Die Integrationsvereinbarung kann also für Frauen sehr wohl ein Impuls und eine Möglichkeit sein, um sich persönlich weiterzuentwickeln.

Lesen in Tirol: Die Kursgebühren möglichst gering zu halten scheint vor diesem Hintergrund von ganz besonderer Bedeutung zu sein?

Silvia Caramelle: Das ist richtig, denn wenn von Seiten der Männer dieser Schritt der Frauen in Richtung Unabhängigkeit generell argwöhnisch betrachtet wird, wären hohe Kosten ein willkommener Vorwand, um einen Kursbesuch ihrer Frauen zu verhindern.


Manche Männer wünschen gar nicht, dass sich ihre Frauen in die neue Gesellschaft integrieren. Foto: Markt-Huter

Lesen in Tirol: Wo liegen bei den KursteilnehmerInnen die Hauptursachen dafür, nicht lesen und schreiben zu können?

Beatrix Cárdenas Tarrillo: Die Ursachen für ihren Analphabetismus sind vor allem in ihren Heimatländern zu finden, da Analphabetismus weltweit sehr verbreitet und selbst innerhalb Europas zu finden ist. In sehr vielen Gebieten, wie etwa in Ostanatolien, ist die Zahl der Schulen gering. Und wenn doch für einige wenige ein Schulbesuch möglich ist, bleiben vor allem die Mädchen aufgrund der patriarchalischen Strukturen davon ausgeschlossen. Gelingt es vereinzelten Mädchen dennoch, die Schule zu besuchen, dann ist das oft nur für ein paar Jahre. Die rudimentären Kenntnisse, die sie während dieser kurzen Zeit erhalten, werden meist bald wieder vergessen.

 

>> Alphabetisierungskurse für MigrantInnen, Teil 2

 

Weiterführende Links:

 

Andreas Markt-Huter, 23-03-2006

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