Tiroler Büchereitag 2006: Büchereien sind Teil der Bildungspolitik

Bereits zum vierten Mal fand am 20. Mai 2006 der Tiroler Büchereitag im großen Lesesaal der Universitätsbibliothek Innsbruck statt. Knapp 90 Tiroler Bibliothekarinnen und Bibliothekare nutzten die Veranstaltung zu einem gemeinsamen Erfahrungsaustausch und wurden über die aktuellsten Aktivitäten, Diskussionen und Veränderungen im Bereich des Bibliothekswesens informiert.

Zum vierten Mal begrüßte Vize-Rektor HR Dr. Martin Wieser die anwesenden Bibliothekarinnen und Bibliothekare, die der Einladung zum Tiroler Büchereitag 2006 gefolgt waren. In seiner Begrüßungsrede hob der Direktor der Universitätsbibliothek Innsbruck die ausgezeichnete Zusammenarbeit hervor, die sich in den letzten Jahren zwischen der Universitätsbibliothek und den Öffentlichen Büchereien in Tirol entwickeln konnte.

Eröffnungsrede von HR Dr. Martin Wieser, Bibliotheksdirektor der UB-Innsbruck:

Dass wir uns in dieser Runde zum wiederholten Male zusammensetzen, ist in Österreich nach wie vor eine Art Unikum. Dass Öffentliche Büchereien und die Universitätsbibliothek gemeinsam Aktivitäten setzen ist - bedauerlicher Weise wie ich glaube - nach wie vor nicht selbstverständlich. Hier sehe ich ein prinzipielles Problem der österreichischen Bibliothekslandschaft. Ich verwende jetzt den Begriff Bibliothek und Bücherei durchaus synonym.

 
Dass sich öffentliche Büchereien und die Universitätsbibliothek zusammensetzen und gemeinsam Aktivitäten setzen, ist in Österreich nach wie vor ein Unikum. Foto: Markt-Huter

Wenn sie sich überlegen, wie unsere Bibliotheken und Büchereien aufgestellt sind, dann sehen sie eine vollkommen heterogene rechtliche Struktur, die sich dahinter befindet. Es ist eine Struktur, die in den letzten Jahren nicht unbedingt zum Vorteil für die Büchereien verändert worden ist.

Bedenke sie, dass unsere Universitätsbibliothek derzeit keine gesetzliche Grundlage hat. Denn im Universitätsgesetz 2002 werden die Universitätsbibliotheken also solche nicht mehr definiert. Es wird auch nicht mehr deren Rolle und Aufgaben definiert oder wie sie zu einem gemeinsamen Nutzen und zu einem gemeinsamen Ziel kooperieren sollen. Es fehlt in Österreich eine Bibliothekspolitik.

Das ist ein Manko, vor allem wenn man über die Grenzen hinaus und in den EU-Bereich hinein sieht, wo die meisten Länder sehr wohl nationale Bibliothekspolitik betreiben. Überlegen sie sich auch, dass wir hier Teil eines Bildungsapparats? sind und dass wir gemessen werden. Die Schulen und andere Bildungseinrichtungen werden über PISA und ähnliche Mechanismen gemessen, wo unter anderem die Lesefähigkeit der Schülerinnen und Schüler abgefragt wird.

 
Büchereien und Bibliotheken sind kein Selbstzweck sondern Teil der Bildungspolitik und einer nationalen Anstrengung, in der wir alle gefordert sind. Auch die Politik ist gefordert, die vorhandenen Kräfte zu bündeln und ein entsprechendes Gewicht und eine entsprechende Zielsetzung vorzugeben. Foto: Markt-Huter

Die Universitäten unterziehen sich zahlreicher nationaler und internationaler Rankings. Fünf unserer naturwissenschaftlich- / technischen Fakultäten sind in den letzten Monaten beurteilt worden. Dabei war die Bibliothek ein eigener Punkt, der mit einer ganzen Reihe von sehr ausdifferenzierten Schichtungsmerkmalen abgefragt wurde. Wir haben bei dieser Abfrage leider nicht besonders gut abgeschnitten. Hier besteht also durchaus noch Verbesserungsbedarf.

In Österreich fehlt eine Bibliothekspolitik

Was ich damit sagen will ist folgendes: Büchereien und Bibliotheken sind kein Selbstzweck sondern Teil der Bildungspolitik und einer nationalen Anstrengung, in der wir alle gefordert sind. Auch die Politik ist gefordert, die vorhandenen Kräfte in den einzelnen Einrichtungen, wie sie in Österreich vorhanden sind, zu bündeln und ein entsprechendes Gewicht und eine entsprechende Zielsetzung vorzugeben. Diese Veranstaltung hier ist, wie ich glaube, einer der Schritte in die richtige Richtung.

Dr. Ronald Bacher von der Kulturabteilung des Landes Tirol hob in seiner Einleitungsrede anlässlich des Tiroler Büchereitags 2006 die besondere Bedeutung des Büchereiwesens in Tirol hervor und äußerte sich über vergangene und aktuelle Entwicklungen in diesem Bereich.

Eröffnungsansprache von Dr. Ronald Bacher, Kulturabteilung des Landes Tirol

Unsere Büchereien sind mehr als nur Orte, wo Medien gesammelt werden. Engagierte, vor allem ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben mit ihrer verdienstvollen Arbeit dazu beigetragen, dass sich unsere Büchereien zu einem wichtigen Kulturträger vor Ort entwickelt haben, bis hin zu einem sozialen Kommunikationszentrum. Außerhalb des regulären Bildungssystems sind sie ein wichtiger lokaler pädagogischer Faktor, als Schnittstelle zwischen Schule ? Eltern und Kinder.

Obwohl die ausschließliche Verantwortung beim Träger vor Ort also den Gemeinden und Pfarren liegt, unterstützt das Land auch vor dem Hintergrund der engen Situation der öffentlichen Haushalte ungekürzt die Anliegen und Projekte unserer Büchereien. Bestens funktioniert die in Österreich einmalige Kooperation mit der Universitätsbibliothek Innsbruck, welche die fachliche und ausbildungsmäßige Betreuung übernommen hat und dem Land Tirol, das für die finanzielle Förderung der Öffentlichen Büchereien zuständig ist. Auch die Österreich weite Kooperation mit dem Büchereiverband und dem Bildungsministerium funktioniert bestens.


Durch die zukünftige engere Zusammenarbeit aller relevanten Einrichtungen auf dem Gebiet der Tyrolensien, kommen wir einer virtuellen Landesbibliothek einen großen Schritt näher. Foto: Markt-Huter

In der Zeitschrift Büchereiperspektiven? ist Tirol das einzige Bundesland, das mit einer eigenen Beilage vertreten ist. Wir arbeiten derzeit gerade an einem Konzept für einen weiteren Beitrag, den wir hoffentlich noch dieses Jahr realisieren können. Tirol wird sich auch an der bundesweiten Leseaktion Österreich liest ? Treffpunkt Bibliothek? beteiligen, die im Oktober stattfinden wird.

Sowohl die Zeitschrift Lesezeichen?, die viermal jährlich erscheint, als auch die Internetseite Lesen in Tirol? fördern eine noch engere Kooperation im Büchereiwesen. Es ist ganz erstaunlich, wie sich die Leseplattform Lesen in Tirol? entwickelt hat und wie sie auch weit über das Büchereiwesen hinaus mit universitären Einrichtungen zusammenarbeitet.

In Zeiten, wo öffentliche Haushalte begrenzt sind und lebensbegleitendes Lernen immer wichtiger wird, sind wir auf die Optimierung aller Ressourcen und auf eine gedeihliche und weiter zu vertiefende Zusammenarbeit angewiesen. Das funktioniert mit den Diözesanen Büchereistellen wie mit der Universitätsbibliothek oder der Interessensgemeinschaft der BibliothekarInnen.

Wir sind einer virtuellen Landesbibliothek einen großen Schritt näher gekommen

Es gibt auch noch das eine oder andere Projekt, welches wir in diesem Jahr umsetzen möchten. Eines davon ist ein Kooperationsvertrag mit der Universitätsbibliothek Innsbruck. Dabei geht es nicht nur um finanzielle Fragen, sondern vor allem darum, dass die Universitätsbibliothek - aufgrund der allgemeinen rechtlichen Situation ? durch einen Vertrag mit der Universität im Universitätsleben und damit auch für alle Öffentlichen Büchereien fest verankert wird.

Ein anderes Ziel, das wir schon seit Jahren verfolgt haben und etlicher Anstrengungen bedurft hat, ist eine Zusammenarbeit aller relevanten Einrichtungen auf dem Gebiet der Tirolensien. Eine entsprechende Arbeitsgruppe wird im Juni installiert, wodurch wir einer virtuellen Landesbibliothek einen großen Schritt näher kommen.

Als weiteren Aspekt, der für die Büchereien sehr wichtig ist, nenne ich die engere Zusammenarbeit im Büchereiwesen mit den Bundesländern Salzburg und Vorarlberg. Das heißt nicht, dass wir uns der Österreich weiten Zusammenarbeit verabschieden wollen. Uns liegt daran, was zentral geboten wird, gut zu nutzen und das, was wir selbst an Workshops anbieten können, auch einmal in Form von Kursen in wechselseitiger Verbindung zu Vorarlberg für das Oberland und in Verbindung zu Salzburg für das Unterland besser nutzen und optimieren zu können.


Dr. Bacher machte in seiner Ansprache auf den Jugendliteratur-Wettbewerb aufmerksam, der gemeinsam mit Südtirol durchgeführt worden war und deren Sieger am 30. Mai prämiert werden. Foto: Markt-Huter

Ich möchte abschließend noch auf ein spezielles Projekt der Universitätsbibliothek Innsbruck hinweisen, den Jugendliteratur-Wettbewerb, deren Gewinner am 30. Mai im großen Lesesaal der Universitätsbibliothek prämiert werden. Bei diesem Projekt hat die Universitätsbibliothek mit dem Amt für Bibliothekswesen in Südtirol zusammen gearbeitet.

Erstmals wurde der Wettbewerb, in enger Kooperation mit dem ORF, für Hörspiele ausgeschrieben und konnte sich über eine beachtliche Anzahl an TeilnehmerInnen freuen. Bei dieser einmaligen Initiative wurde viel Vorarbeit auch von Seiten der Lehrerinnen und Lehrer geleistet. Außerdem ist es gelungen, die Veranstaltung im nachhinein noch als EU-Projekt bewilligt zu erhalten. Es ist noch nie ein Vorhaben vom Lenkungsausschuss so schnell positiv beurteilt und genehmigt worden, wie dieses Projekt vor zwei Wochen.

Ich wünsche Ihnen eine interessante Veranstaltung und einen regen Gedankenaustausch zum Thema.

Mag. Gerald Leitner, Geschäftsführer des Büchereiverband Österreichs, unterstrich die hervorragende Arbeit im Tiroler Büchereiwesen und beklagte die fehlende gesetzliche Grundlage für das Büchereiwesen in Österreich. Er nutzte aber auch die Gelegenheit auf das Leseprojekt Österreich liest ? Treffpunkt Bibliothek?, das heuer erstsmals in der Woche vor dem Nationalfeiertag vom 16. ? 22. Oktober stattfinden wird.

Begrüßungsansprache von Mag. Gerald Leitner, Geschäftsführer des BVÖ

Ich möchte mich für die Arbeit bedanken, die sie in den letzten Jahren in ihren Büchereien für das Lesen, für die Kultur und für die Bildung geleistet haben. Dass dies absolut nicht selbstverständlich ist, hat ja bereits Herr Vizerektor Wieser betont, nachdem es in Österreich keine gesetzliche Grundlage für das Büchereiwesen gibt. Wenn sie sich vorstellen: wir haben in der EU 25 Mitgliedsländer; 16 davon haben eine gesetzliche Grundlage und 9 nicht. Es ist bedauerlich, dass Österreich zu den 9 Ländern ohne gesetzliche Regelung des Büchereiwesens zählt und wir damit in Europa in diesem Bereich praktisch zum Schlusslicht gehören. Dass sich das ändert, daran müssen wir alle arbeiten.

Ich möchte mich bei allen Organisationen bedanken, mit denen wir in den letzten Jahren ganz hervorragend zusammen gearbeitet und tolle Aktionen durchgeführt haben. Wenn zuvor der Zentralismus angesprochen worden ist, so sehe ich den wirklich nicht in dieser Form sondern ich sehe uns ganz im Gegenteil als Angebotsgeber, als Partner, indem wir hier Möglichkeiten mit Ihnen gemeinsam realisieren, indem wir Ausbildungsmöglichkeiten anbieten, die von der Softwarebetreuung über Internetzugänge, Fortbildungen zur Kinder- und Jugendliteratur, bis hin zu Leseakademie reichen. Ich möchte ausdrücklich betonen, dass dies alles nur deshalb so gut funktioniert, weil wir in Tiroler Partner haben. Es geht dabei nicht um Provinzialismus oder Zentralismus sondern um eine gute Zusammenarbeit für alle Büchereien und Bibliotheken Tirols.

   
Mit Österreich liest ? Treffpunkt Bibliothek? finden vom 16. - 22. Oktober österreichweit Veranstaltungen statt, um unterschiedlichen Zielgruppen eigene Zugänge zum Lesen und zu Bibliotheken zu eröffnen. Foto: Markt-Huter

Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um auch hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken. Wie bereits angekündigt, wird es eine neue Zusammenarbeit geben zwischen dem Land Tirol, dem Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur und dem Büchereiverband Österreichs und vielen anderen Partnern, nämlich die Aktion: Österreich liest ? Treffpunkt Bibliothek?. Diese Aktion wird heuer das erste Mal in der Woche vor dem Nationalfeiertag, also vom 16. ? 22. Oktober durchführen werden. Wir wollen damit Lust aufs Lesen machen und Interesse für die Bibliotheken wecken. Vor dem Hintergrund der PISA-Studie möchte ich sagen: Wir brauchen einen lustvollen Zugang zum Lesen und keinen Stress beim Lesen. Diese beiden Ziele wollen wir gemeinsam mit den Öffentlichen Büchereien realisieren.

Sie alle führen eine Fülle an Veranstaltungen durch, bringen sehr viel Energie in ihre Tätigkeit ein und besitzen ein hohes Kreativitätspotential; allein die große Anzahl der jährlichen Veranstaltungen ist beeindruckend. Wir haben aber leider sehr oft das Problem der Wahrnehmung, bei der Vermittlung der Veranstaltungen, sodass sie in der Öffentlichkeit nicht entsprechend wahrgenommen werden.

Wir glauben daher, dass eine konzertierte Aktion gut tut, wo wir versuchen unsere Aktivitäten zu bündeln und alle österreichischen Bibliotheken und Büchereien dazu zu animieren, in der Woche vom 16. ? 22. Oktober zumindest eine Veranstaltung in ihrer Bücherei durchzuführen. Ob es sich dabei um eine Lesung, einen Leseabend oder einen Workshop handelt ist dabei nebensächlich, Hauptsache es wird etwas gemacht und kann beworben werden. Wir können gemeinsam eine viel größere Wahrnehmung in der Öffentlichkeit erreichen, als jede Veranstaltung einzeln für sich. Es ist ein Versuch das Potential der Öffentlichen Büchereien darzustellen und auf das Lesen? und auf Büchereien? gleichzeitig aufmerksam zu machen.

Wir haben gestern mit Unterstützung des Landes Tirol mit dem Druck der Plakate von Österreich liest? begonnen und es wird ein sehr schönes Plakat sein, das sie alle im September zugeschickt bekommen werden. Sie werden für die Aktion eine Vielzahl an professionell und ansprechend gestalteten Materialien wie Plakate, Einladungsfolder und Lesenzeichen erhalten.


Die Aktion Österreich liest "Treffpunkt Bibliothek" ist ein Versuch, das Potential der Öffentlichen Büchereien darzustellen und auf das Lesen? und auf Büchereien gleichzeitig aufmerksam zu machen. Foto: Markt-Huter

Mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur werden wir im Oktober in allen großen österreichischen Tageszeitungen eine österreichweite PR-Kampagne für die Bibliotheken starten. Prominente aus Politik, Kultur und Sport werden dazu mit ihrem Bild für die Bibliotheken und für das Lesen einen Slogan abgeben, um einen neuen Zugang für das Lesen und die Bibliotheken zu schaffen.

Erfreulicher Weise hat auch Bundespräsident Dr. Heinz Fischer seinen Ehrenschutz zugesagt und betont, dass ihm die Aktion ein ganz besonderes Anliegen ist. Er hat sich bereit erklärt, während der Aktionswoche in einigen Bibliotheken aufzutreten, selbst zu lesen und mit zu diskutieren. Das zeigt recht deutlich, die besondere Wertschätzung die er dieser Aktion entgegen bringt. Der Herr Bundespräsident wird auch an der Inseratenkampagne teilnehmen, die wir für ihn mit Hilfe von Sponsoren finanzieren können. Die Aktion, die dazu dient vor allem die Tätigkeit der Büchereien zu fördern, wird also ein beachtliches Ausmaß erreichen.

Bundespräsident Heinz Fischer unterstützt die Aktion "Österreich liest - Treffpunkt Bibliothek" im Oktober

Uns liegt daran, für verschiedene Zielgruppen eigene Zugänge zu schaffen. Meinen neunjährigen Sohn interessiert es mehr, wenn z.B. der österreichische Fußball-Teamchef Josef Hickersberger über die besondere Bedeutung der Bibliotheken fürs Leben spricht. Damit soll in verschiedenen Zeitungen auch ein bibliotheks- und lesefernes Publikum auf die Bibliotheken aufmerksam gemacht werden.

Meine Tochter mit zwölf Jahren interessiert sich wiederum überhaupt nicht für Fußball und für sie ist es viel interessanter, wenn z.B. Christine Stürmer etwas zum Lesen und zu Büchereien sagt. Und genau das ist unser Ziel: verschiedene Identifikationsfiguren für das Lesen und für Büchereien anzubieten. Es wäre natürlich sehr schön, wenn uns nicht nur der Herr Bundespräsident unterstützt, sondern in Tirol auch der Landeshauptmann oder der Kulturlandesrat mit einem Inserats in der Zeitung bei der Leseaktion mitmacht.

Ich würde mich freuen, wenn sich die Tiroler Büchereien zusammenfinden würden, um für diese Woche gemeinsam Ideen zu entwickeln und es dem Büchereiwesen gelingt, sich mit Hilfe des medialen Rückenwinds besonder gut darzustellen. Ich würde mich freuen, wenn im öffentlichen Bewusstsein der Eindruck zurück bliebe: Alle Achtung! Diese Bibliotheken können was. Sie haben zwar kein Gesetz, aber wir werden ihnen eines machen, weil sie so toll sind! Das ist unsere Hoffnung.

Für den offiziellen Vortrag zum Tiroler Büchereitag 2006 Neuerscheinungen deutschsprachiger Belletristik konnte der renommierte Schweizer Literaturkritiker Stefan Gmünder gewonnen werden. Der Journalist und Kritiker schreibt für verschiedene deutsche, Schweizer und österreichische Printmedien zu denen u.a. die Berliner Zeitung, die Süddeutsche Zeitung, der Tages Anzeiger Zürich und der Standard zählen. Mitte der 90-iger Jahre konzentrierte sich Gmunder ganz auf den Kulturjournalismus und ist seit 1999 für die Buchseiten in der Wochenendbeilage ALBUM der Tageszeitung Der Standard verantwortlich.

   
Wahrscheinlich lesen wir alle, weil es Bücher gegeben hat, die unser Leben verändert haben, die uns zerstört haben oder die uns vielleicht sehr glücklich gemacht haben. Und wir sind vielleicht einmal auf ein Buch gestoßen und haben gesagt: das möchte ich weiter verfolgen. Foto: Markt-Huter

 

Stefan Gmünder: Vortrag Neuerscheinungen deutschsprachiger Belletristik

 

Zu Beginn des Vortrags bemerkte der Literaturkritiker:

Ich möchte nicht nur über Bücher reden sondern über das Lesen allgemein, was lesen und leben miteinander zu tun haben, was Realität mit Fiktion zu tun hat. Mir persönlich ist das Gespräch mit der Literatur eigentlich das wichtigste, was es gibt. Ich verstehe meinen Job als Literaturkritiker vor allem als Angebot, ein öffentlicher Mitleser zu sein. Es geht nicht darum, von oben herab Bücher abzukanzeln und schlecht zu machen sondern Leseerfahrungen weiter zu geben. Ich halte das Gespräch über das Buch für das wichtigste, das es gibt. Ich habe Bibliotheken vor allem deswegen immer gemocht, weil sich dort eben viele Leser treffen.

Gmünder weist auf die Bedeutung des Wortes hin, das viel mächtiger und wirkungsvoller sei als die stärkste Waffe. Es sei daher auch kein Zufall, dass gerade Bibliotheken im Krieg, wie in jüngster Zukunft in Sarajewo oder im antiken Alexandria zuerst zerstört worden seien. Aber auch im kleinsten privaten Bereich komme dem Lesen eine wichtige Bedeutung zu:

Ich mag das Lesen auch deswegen, weil es ein bestimmter Umgang mit Geschichten ist. In der Schweiz, sagen Mütter immer, wenn ihre Kinder etwas anstellen: Was machst du wieder für Geschichten! Man weiß, es ist etwas Schlimmes passiert, man hat etwas nicht gut gemacht und trotzdem: dieser Hinweis auf die Geschichte, auf eine Geschichte birgt irgendwie schon den Trost und man wird in ein paar Jahren darüber reden und eine Form und eine Geschichte dafür finden. Egal ob man darüber laut lachen oder weinen können wird: die Geschichte ist da.

Die Frage warum wir lesen, sei ebenso schwer und unbefriedigend zu beantworten, wie die Frage für AutorInnen, weshalb sie schreiben würden:

Wie sieht es aus mit dem Lesen? Auch Lesen ist eine einsames Geschäft. Warum lesen Sie? könnte man sie jetzt fragen. Wahrscheinlich lesen wir alle, weil es Bücher gegeben hat, die unser Leben verändert haben, die uns zerstört oder uns vielleicht sehr glücklich gemacht haben. Und wir sind vielleicht einmal auf ein Buch gestoßen und haben gesagt: das möchte ich weiter verfolgen. Diese zweite Welt, diese sekundäre, ideale Welt ist etwas zusätzliches, etwas das neue Welten, andere Welten erschließt. Erich Kästner hat einmal gesagt: Es gibt einen Unterschied zwischen wahr? und wirklich passiert?. Wahr? ist, was auch hätte sein können?. Und genau um diese Wahrheit geht es auch in der Literatur.


Während in Deutschland der Anteil der Bevölkerung, der eine Öffentliche Bücherei nutzt, in den letzten 10 Jahren von 34% auf 26% der Gesamtbevölkerung zurückgegangen ist, nahm der Anteil der BibliotheksbenutzerInnen in Österreich zu und liegt derzeit ebenfalls bei ca. einem Viertel der Gesamtbevölkerung. Foto: Markt-Huter

Gmünder geht anschließend der Frage nach, was ein Leser eigentlich genau sei und kommt zum Schluss, wie hilflos wir eigentlich beim Versuch seien, dieses unbekannte Wesen den Leser zu definieren. Die letzte große Untersuchung, die im vergangenen Jahr in Deutschland über das Leseverhalten durchgeführt worden sei, kam zu folgenden interessanten Ergebnissen:

  • 86.500 Erst- und Neuauflagen von Büchern sind im letzten Jahre erschienen, soviel wie nie zuvor.
  • Die Buchbranche machte ein Umsatzplus von 1,1%.
  • Der Anteil der deutschsprachigen Belletristik beträgt zwischen 10 ? 14 %, das sind also ca. 9.000 Bücher.
  • Knapp die Hälfte dieser Bücher sind Romane, der Rest ist Prosa und andere erzählenden Literatur.
  • Die großen Verlierer im Bereich der Belletristik sind - trotz Harry Potter ? Märchen, Sagen und Fabeln.
  • Die Gewinner waren fremdsprachige Literatur:
      +55% Übersetzungen von Romanen aus dem amerikanischen:
      + 7% Comics
      + 8% Kinder- und Jugendbücher
      + 7% Hörbücher
  • Es lesen immer noch mehr Frauen als Männer und Mädchen mehr als Jungs.

Ich verstehe meinen Job als Literaturkritiker vor allem als Angebot, ein öffentlicher Mitleser zu sein.

Die Untersuchung weise aber auch auf eine interessante Entwicklung im Leseverhalten vieler Jugendlicher hin:

Eine interessante Entwicklung, die sich herauskristallisiert hat, ist das sogenannte "Häppchenlesen" oder "Text-Zapping". 30% der Jugendlichen, das sind dreimal so viel wie bei der letzten großen Untersuchung 1992, geben an, dass sie einen Text nicht mehr ganz lesen. Sie lesen vielleicht den Anfang, dann in der Mitte und den Schluss. Das tun wir alle zwar auch mitunter, aber diese Jugendlichen lesen ausschließlich auf diese Art. Das ist sicher der Einfluss des Fernsehens. Thomas Rothschild  hat vor 15 Jahren ein Buch geschrieben "Relax and enjoy", wo er die totale Infantilisierung der Gesellschaft vorausgesagt hat. Man hat ihn damals ausgelacht, aber jetzt ist es soweit. Es ist interessant, wie jüngere Autoren auf dieses Phänomen reagieren und mit sehr guten formalen Mitteln die Leser "bei der Stange halten".

Im Bereich des Büchereiwesens habe sich in Deutschland und Österreich eine gegenläufige Entwicklung abgezeichnet, die dazu geführt habe, dass sich der Anteil der BibliothsbenutzerInnen in beiden Ländern angeglichen habe. Während in Deutschland die Nutzung der Bibliotheken von 34% auf 26% der Gesamtbevölkerung zurückgegangen sei, konnte in Österreich ein Anstieg des Anteils der Bevölkerung, der die Angebote von Bibliotheken nutzen würden, verzeichnet werden. Die Untersuchung habe außerdem aufgezeigt, dass 57% der 6 ? 13-jährigen wenigsten einmal pro Woche in einem Buch lesen würden. 13% hätten angegeben sogar jeden Tag zu lesen.


Man versucht in kleinen Verlagen Entdeckungen zu machen und dort die wirklichen Perlen zu finden. Hier findet man immer wieder AutorInnen, die sehr bedeutend und interessant sind. Foto: Markt-Huter

Stefan Gmünder gab in Folge einen kleinen Einblick in das Leben eines Literaturkritikers und schilderte, wie er bei der Auswahl von Büchern vorgehe. Die Auswahl sei, bei jährlich knapp 9.000 Buch-Neuerscheinungen und einer Menge von Verlagsprospekten, die aufeinandersgestapelt die Höhe von 1,80 Metern erreichen würden, ein nicht gerade einfaches Unterfangen:

Wie geht man also vor? Zuerst gibt es einmal das symbolische Signal von großen Verlagen, wie etwa des Suhrkamp-, des Rowohlt- oder den S. Fischer-Verlags. Dies sind die Flagschiffe? unter den Verlagen, welche die großen Autoren unter Vertrag haben. Dann gibt es aber auch AutorInnen, an denen man nicht vorbei kommt. Wenn Elfriede Jelinek ein Buch schreibt, wird das sicher ebenso besprochen werden, wie wenn ein Josef Haslinger ein Buch schreibt.

Dann versucht man sich DebütantInnen genauer anzuschauen. Das sind Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die ihr erstes Buch vorlegen. Außerdem beobachtet man die Konkurrenz in den anderen Zeitungen und ganz wichtig: man liest Literaturzeitschriften, wo viele Autoren, die noch nicht durch Buchveröffentlichungen hervorgetreten sind, erste Texte publizieren und schaut darauf: was könnte von dort kommen und wie könnte das weitergehen.

Wichtig sei es auch, in den kleinen Verlagen auf Entdeckungsreise zu gehen, um dort die literarischen Perlen zu finden. Außerdem lege er großen Wert auf das richtige Mischungsverhältnis zwischen den verschiedenen Sprachregionen Deutschland, Österreich und der Schweiz. Abschließend wies Stefan Gmünder auf die Subjektivität des Geschmacks hin:

Eine Auswahl, die so zustande kommt, ist subjektiv und muss es auch sein, weil sie von meinen Vorlieben abhängt, von gewissen literarischen Traditionen, was man mag und nicht mag, von wo man herkommt. Natürlich kommt es auch auf das Literaturverständnis des Auswählenden an. Ich persönlich halte wenig von "Kanon-Debatten" und "Büchern, die man lesen muss". Kein Mensch "muss" lesen, man kann es höchstens trotzdem tun.

Diese sekundäre Welt ist etwas zusätzliches, das eben diese primäre Welt um etwas Weiteres ergänzt, das aber deshalb nicht weniger wahr ist, als diese so genannte "reale Welt". Es gibt auch keinen Grund, LeserInnen von Groschenromanen oder Herz-, Schmerzgeschichten gering zu schätzen und populäre und sehr erfolgreiche Bücher zu verachten. Wie und was einer liest, sei ihm überlassen. Hauptsache er liest überhaupt!



Andreas Markt-Huter, 26-05-2006


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