Zwischen Anleitung und Freiraum - Wege der Individualisierung im Leseunterricht

Das In-dividuum ist das Unteilbare. Wenn wir als Lehrerinnen und Lehrer einen Schüler oder eine Schülerin als Individuum sehen wollen, dann beansprucht er oder sie unsere Aufmerksamkeit voll und ganz. Sobald wir die Gesamtheit aller Schülerinnen und Schüler einer Klasse auf den kleinsten gemeinsamen Nenner bringen, werden wir den Bedürfnissen des/der Einzelnen unter Umständen nicht mehr gerecht. Über- oder Unterforderung, Demotivation und Interesselosigkeit können sich einstellen.

Individualisierung
Individualisierung im Unterricht ist ein Gebot der Stunde. Bildungsministerin Claudia Schmied nennt in einem Interview mit dem Standard vom 29. März 2008 die Individualisierung das oberste Prinzip des Unterrichts. An anderer Stelle bezeichnet sie mehr Chancengerechtigkeit, Leistungsförderung und Individualisierung als die zentralen Begriffe ihrer bildungspolitischen Arbeit.

Homogenisierung
Die Realität ist oft eine andere. Das österreichische Bildungssystem ist in vielen Bereichen noch auf Homogenisierung ausgerichtet. Jahrgangsstufen fassen Gleichaltrige zusammen, und die Trennung der Sekundarstufe 1 sowie die Einrichtung von Leistungsgruppen zielen auf Homogenität der Klassen ab. Dabei wissen Lehrerinnen und Lehrer sehr genau: Sie haben es in der Klasse nie mit homogenen Lernkörpern zu tun, sondern immer mit Individuen. Schülerinnen und Schüler starten mit unterschiedlichen Voraussetzungen, entwickeln sich unterschiedlich und peilen unterschiedliche Ziele an. Individualisierung heißt also, jeden Schüler und jede Schülerin nach seinen und ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen zu betreuen. Pisa-Austria Chef Günter Haider meint in einem Interview mit dem Standard vom 16. Juli 2007: International geht die Tendenz dahin, in dieser Altersgruppe [Anmerkung: der 10-14-Jährigen] heterogene Gruppen zu führen, mit einer starken individuellen Komponente, mit temporären Kleingruppen bis zur Einzelförderung.

Neues Unterrichten
Die Vielfalt an Begabungen in einer Klasse verlangt gerade den Lehrerinnen und Lehrern der Grundschulen ein hohes Maß an Flexibilität ab. Ähnliches gilt für die Hauptschulen trotz ihrer Leistungsgruppen. Und auch die neuen Schulversuche in der Sekundarstufe 1 können ohne Wege der Individualisierung nicht beschritten werden.

Freiräume gewähren
Auch eine Individualisierung des Leseunterrichts muss sich an den persönlichen Bedürfnissen und Interessen der Schülerinnen und Schüler orientieren. Was liegt näher, als jedem Schüler und jeder Schülerin Freiheiten zuzugestehen? Sie lesen, was sie interessiert, bestimmen ihr Lesetempo selbst und entscheiden auch, wie und ob sie das Gelesene, z.B. in einem Lesetagebuch, reflektieren. Und genau diese Haltung trifft das Wesen literarischen Lesens: Es soll Freiräume schaffen, von persönlicher Neugierde geleitet sein und ganz einfach Vergnügen bereiten.

Den Lehrpersonen kommt allenfalls eine beratende Funktion zu. Die Lehrerinnen und Lehrer kennen die Angebote der Schulbibliothek und können Lesestoffe unterschiedlichen Inhalts und Schwierigkeitsgrades empfehlen. Dies gelingt dann, wenn sie selbst die Schulbibliothek nutzen und regelmäßig über Neuigkeiten durch den Bibliothekar oder die Bibliothekarin informiert werden.

Keinesfalls sollen Lehrpersonen sich davor scheuen, den Schülern und Schülerinnen ausreichend Unterrichtszeit in Form freier Lesezeiten zu überlassen, auch wenn sie dabei nicht immer alles und jedes kontrollieren können. Viele Kinder und Jugendliche erfahren Phasen der absoluten Ruhe und der emotionalen Auseinandersetzung mit einem Text als etwas ganz Besonderes, zumal eine angenehme Atmosphäre zum Lesen zuhause oft nicht möglich ist. Aber gerade lustvolles, selbstbestimmtes Lesen ist der sicherste Weg zur Verbesserung der Lesefertigkeit und - Leseknick hin oder her - prägend bis ins Erwachsenenalter.

Der Weg des individuellen Lesens setzt auf Seiten der Schüler und Schülerinnen ein gewisses Maß an Können, Eigenverantwortung und Bewusstheit der persönlichen Interessen voraus.

Unter Anleitung
Wie aber umgehen mit Kindern, deren Lesefertigkeit nicht ausreicht, komplexere Texte, geschweige denn ein ganzes Buch zu bewältigen? Werden da Freiräume zum planlosen Laissez-faire? Gerade in Gruppen mit sehr schwachen Leserinnen und Lesern macht das gemeinsame Lesen durchaus Sinn. Zum einen, weil die Lehrperson über weite Strecken vorlesen und den Inhalt mit eigenen Worten wiederholen kann. Zum anderen bedürfen Abschnitte, die von den Schülerinnen und Schülern still gelesen werden, ebenfalls der Erläuterung und Diskussion. Die erste Begegnung mit Büchern schafft nämlich bei ungeübten Leserinnen und Lesern oft Probleme, mit denen wir gar nicht rechnen. Da gibt es Sprechakte ohne Anführungszeichen oder Begleitsätze, Perspektivenwechsel oder Rückblenden, eben Merkmale von Literatur, die verwirren und überfordern können.

Nicht zu unterschätzen ist die Tatsache, dass die gemeinsame Lektüre eines Buches etwas Verbindendes, die Gemeinschaft Stärkendes hat. Ein sehr gutes Beispiel stellt meines Erachtens der Klassiker Ben liebt Anna von Peter Härtling dar. Dieser Titel kommt als Klassenlektüre in Volks- und Hauptschulen derart gut an, dass andere Klassen zwangsläufig davon hören und ihn auch lesen wollen. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, während oder im Anschluss an die Klassenlektüre gemeinsame Projekte umzusetzen. Der Schlüssel zum erfolgreichen gemeinsamen Lesen liegt letztendlich in der Auswahl des Lesestoffes.

Aber auch Klassenlektüren können Freiräume aufmachen. ZB wenn in einer Klasse gleich vier oder fünf Bücher zu einem bestimmten Thema in Gruppen gelesen werden. Die Lehrperson ist hier noch in der Lage, auf Fragen einzugehen und Verständnisprobleme auszuräumen. Innerhalb der Gruppen wird ein reger Austausch über das Gelesene stattfinden. Und am Ende soll jede Gruppe zum gemeinsamen Thema Stellung nehmen und den anderen ihr Buch vorstellen, ja im besten Fall weiterempfehlen. Eine erste Adresse: Der Buchklub der Jugend bietet Gorilla-Bände zu aktuellen Themen an.

Noch einfacher gelingt eine Individualisierung bei leseschwachen Gruppen durch Erzählbände. Kurze, leicht zu lesende Texte von überschaubarer Länge, anregende und vielfältige Inhalte prägen die Gorilla-Bände der letzten beiden Jahre, die auch in den 3. Leistungsgruppen sehr gut angenommen werden.

Leseunterricht muss oft auch die Form eines Lesetrainings annehmen, und auch hier ist Individualisierung der beste Weg zum Erfolg. Leseschwache Kinder vermeiden es, im Klassenverband negativ aufzufallen und sich Blößen zu geben. Im Gegenteil, sie verstehen es oft sehr gut, unterzutauchen und eine Leseschwäche, zum Teil über Jahre, zu kaschieren.

Das Salzburger Lesescreening hat den Blick für diese Gruppe von Schülerinnen und Schülern geschärft. Das Screening allein reicht allerdings nicht aus, im Anschluss daran müssen individuelle Fördermaßnahmen gesetzt werden. Wir müssen diese Kinder im Einzelunterricht oder in Kleingruppen betreuen, in denen die Hemmschwellen niedriger sind und die Kinder bereit zur aktiven Mitarbeit.

Ein starker Zug von Individualisierung ist gegeben, wenn für jedes Kind am Beginn des Förderunterrichts ein persönliches Leseprofil erstellt wird. Dieses verzeichnet einen Status quo, der am Ende von Fördermaßnahmen überprüft werden kann und soll. Das Kind bemerkt bei der Erstellung des Leseprofils in der 1:1 Situation eine Wertschätzung, deren Erfahrung eine wichtige Grundlage für Motivation und Fortschritt ist.

Zusammenfassend kann festgstellt werden, dass Individualisierung im Leseunterricht verschiedene Formen annehmen kann, sei es durch die Gestaltung von Freiräumen, sei es durch angeleitetes Lernen in Kleingruppen und Einzelbetreuung. In jedem Fall wird durch sie die Lesefertigkeit befördert und die Freude am Lesen gestärkt.



Quelle oder Autor/-in: Reinhold Embacher

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