Wenn Schüler vorlesen sollen

Autorenlesungen, der Einsatz von Vorlesepaten bzw. Lesebuddys, Vorlesewettbewerbe - all das sind vielfältige Aktivitäten zur Förderung des Lesens und Vorlesens.

Dass darüber hinaus auch im normalen alltäglichen Unterricht ständig vorgelesen wird, findet - weil eine Selbstverständlichkeit seit jeher  -  keine besondere Reflexion. Selten wird überprüft, ob die Ziele des Vorlesens erreicht werden. Eher erweist sich das Vorlesen im Fachunterricht als Gewohnheit: Der Text, der behandelt werden soll, wird in der Klasse halt üblicherweise laut vorgetragen.

Vorlesen wird im alltäglichen Leben nicht allzu oft praktiziert, sieht man davon ab, dass hoffentlich doch noch viele junge Eltern ihren Kleinen eine Gute-Nacht-Geschichte darbieten. Erfahrungsgemäß lieben es aber auch Größere, wenn ihnen vorgelesen wird. Wer als Erwachsener anderen etwas vorliest, darf sich üblicherweise auf den Text vorbereiten, ihn still durcharbeiten, mit Anmerkungen und Markierungen versehen. Für  Schüler scheint dieser wichtige Grundsatz nicht in diesem Maße zu gelten. Oftmals wird ihnen keine Gelegenheit dafür geboten, daher melden sich meistens auch nur die besten Leser zum Vorlesen. Warum das so ist, liegt auf der Hand: Schlechte Vorleser entwickeln klarerweise Ängste, sich zu blamieren, daraus resultierend Hemmungen - das spontane Vorlesen wird so zum Spießrutenlauf. Unsicherheit und Nervosität verursachen vorprogrammierte Fehler. Tragen schlechte Vorleser einen Text vor, kann dieser in der Regel nur von denjenigen verstanden werden, die dem Vorleser n i c h t  zuhören und sich stattdessen selbst auf die stille Texterarbeitung konzentrieren. Außerdem: Ein Schüler, der einen Text unvorbereitet vortragen muss, versteht üblicherweise weniger von dessen Inhalt als die Mitschüler, die still mitlesen dürfen. Ein problematischer Vorgang ist z. B. auch das Vorlesenmüssen einer ganzen Schulbuchseite - ein didaktischer Wert ist so kaum erkennbar. Besser wäre es, sich mit dem Text still oder in Partnerarbeit zu beschäftigen.

Deshalb ist die Planung von  Aktivitäten v o r,  w ä h r e n d  und  n a c h  dem  Vorlesen empfehlenswert:

  • 1. Phase - V o r dem Vorlesen:

Den  Text still vorbereiten - geradezu eine Faustregel! Notationen machen!

  • 2. Phase - W ä h r e n d des Vorlesens:

Geeignete Aufgabenstellungen, etwa Beobachtungs- und Wahrnehmungsaufgaben zur inhaltlichen Erarbeitung, sollen das konzentrierte Zuhören erleichtern. Wenn während der Vorleseaktivität Notizen für die eventuelle spätere Diskussion zu machen sind, fühlen sich die Zuhörer nicht unterfordert und entwickeln ein inhaltliches Interesse am Text, anstatt sich nur berieseln zu lassen. Diese Notizen sollten später allerdings auch zum Gegenstand des Unterrichts gemacht werden.

  • 3. Phase - N a c h dem Vorlesen:

Der Text wird in einen großen Zusammenhang eingeordnet und inhaltlich erarbeitet.

Ich habe als Beispiel eine Ballade ausgewählt, die sich meiner Ansicht nach für die 7. bis 8. Schulstufe eignet, nämlich John Maynard von Theodor Fontane.


Theodor Fontane, John Maynard

             John Maynard!

             »Wer ist John Maynard?«

             »John Maynard war unser Steuermann,

            Aus hielt er, bis er das Ufer gewann,

5          Er hat uns gerettet, er trägt die Kron,

             Er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn,

                                                      John Maynard.«

                                                         *

             Die »Schwalbe« fliegt über den Eriesee,

             Gischt schäumt um den Bug wie Flocken von Schnee;

10        Von Detroit fliegt sie nach Buffalo -

             Die Herzen aber sind frei und froh,

             Und die Passagiere mit Kindern und Fraun

             Im Dämmerlicht schon das Ufer schaun,

             Und plaudernd an John Maynard heran

15        Tritt alles: »Wie weit noch, Steuermann?«

             Der schaut nach vorn und schaut in die Rund:

             »Noch dreißig Minuten ... Halbe Stund.«

 

             Alle Herzen sind froh, alle Herzen sind frei -

             Da klingts aus dem Schiffsraum her wie ein Schrei,

20        »Feuer!« war es, was da klang,

             Ein Qualm aus Kajüt und Luke drang,

             Ein Qualm, dann Flammen lichterloh,

             Und noch zwanzig Minuten bis Buffalo.

 

             Und die Passagiere, buntgemengt,

25        Am Bugspriet stehn sie zusammengedrängt,

             Am Bugspriet vorn ist noch Luft und Licht,

             Am Steuer aber lagert sichs dicht,

             Und ein Jammern wird laut: »Wo sind wir? wo?«

             Und noch fünfzehn Minuten bis Buffalo. -

 

30        Der Zugwind wächst, doch die Qualmwolke steht,

             Der Kapitän nach dem Feuer späht,

             Er sieht nicht mehr seinen Steuermann,

             Aber durchs Sprachrohr fragt er an:

             »Noch da, John Maynard?«

                                               »Ja, Herr. Ich bin.«

             »Auf den Strand! In die Brandung!«

35                                          »Ich halte drauf hin.«

             Und das Schiffsvolk jubelt: »Halt aus! Hallo!«

             Und noch zehn Minuten bis Buffalo. - -

 

             »Noch da, John Maynard?« Und Antwort schallts

             Mit ersterbender Stimme: »Ja, Herr, ich halts!«

40        Und in die Brandung, was Klippe, was Stein,

             Jagt er die »Schwalbe« mitten hinein.

             Soll Rettung kommen, so kommt sie nur so.

             Rettung: der Strand von Buffalo!

 

                                                          *

                Das Schiff geborsten. Das Feuer verschwelt.

45           Gerettet alle. Nur einer fehlt.

                                                         *

 

                Alle Glocken gehn; ihre Töne schwelln

                Himmelan aus Kirchen und Kapelln,

                Ein Klingen und Läuten, sonst schweigt die Stadt,

                Ein Dienst nur, den sie heute hat:

50           Zehntausend folgen oder mehr,

                Und kein Aug im Zuge, das tränenleer.

 

                Sie lassen den Sarg in Blumen hinab,

                Mit Blumen schließen sie das Grab,

                Und mit goldner Schrift in den Marmorstein

55           Schreibt die Stadt ihren Dankspruch ein:

                               »Hier ruht John Maynard! In Qualm und Brand

                               Hielt er das Steuer fest in der Hand,

                               Er hat uns gerettet, er trägt die Kron,

                               Er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn.

60                                                          John Maynard.«

 

TEXTERSCHLIESSUNG

  • a) Als erste Textbegegnung lesen die Schüler den Text natürlich leise durch.
  • b) Dann sollte ein Schüler die Ballade laut vorlesen. Die anderen Schüler markieren sich dabei mögliche Lesefehler und überlegen dann, warum das Verlesen passiert sein könnte.
  • c) Als Drittes werden unbekannte Begriffe nachgeschlagen, z. B. Element:

 chemischer Grundstoff, die 4 Urstoffe Wasser, Feuer, Erde, Luft. Welche Bedeutung passt wohl am besten zu der entsprechenden Textstelle? Weitere Wörter, die eventuell einer  Erklärung bedürfen: Gischt, Fraun, Kajüt, Bugspriet sowie geografische Begriffe, etwa Eriesee, Detroit, Buffalo.

  • d) Einteilung der Ballade in Sinnabschnitte - Klammern und Teilüberschriften setzen!
  • - Strophe 1: Wer ist John Maynard? - Steuermann, Held, Retter; Vorwegnahme des Ausgangs der Ballade in den letzten drei Verszeilen.
  • - Strophe 2: An Bord der Schwalbe - hoffnungsvoll freudige Stimmung der Passagiere.
  • - Strophen 3 und 4: Feuer! - Verzweiflung macht sich breit.
  • - Strophe 5: Versuch der Verantwortlichen - allen voran John Maynard - die prekäre Lage in den Griff zu bekommen.
  • - Strophen 6 und 7: Todesmutige Rettung der Passagiere - der hohe Preis: John Maynard ist tot.
  • - Strophen 8 und 9: Das feierliche Begräbnis des Helden - erhebender Dank der Stadt in Form einer goldenen Inschrift. Wiederholung der abschließenden Verszeilen der ersten Strophe:

Er hat uns gerettet, er trägt die Kron,

  Er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn,

                                         John Maynard.

  • e) Weiters könnte man die W-Fragen schriftlich festhalten, eventuell in Form einer Tabelle, wobei man auf stattfindende Ortswechsel der Figuren nicht vergessen sollte.
  • f) Auch das Verfassen einer Inhaltsangabe bietet sich an: In dieser Ballade geht es um .... Zeitform Präsens und Vermeidung direkter Reden beachten!

TEXTVERSTÄNDNIS SICHERN

Zum guten Vortrag gehört, dass man den Text richtig versteht. Das kann man durch die Arbeit mit inneren Bildern erreichen.

  • a) Einer liest vor, während die anderen die Augen geschlossen halten. Vor ihrem inneren Auge lassen sie die Bilder der Handlung ablaufen.
  • b) Nachher tauschen sich die Schüler über folgende Fragen aus:
  • - Was alles gehört zu meinem inneren Bild?
  • - Wie stelle ich mir die handelnden Figuren vor?
  • - Welche Atmosphäre beherrscht mein inneres Bild? Ist sie heiter und fröhlich oder gespenstisch und gefährlich?
  • - Welche Gefühle hätte ich, wenn ich die Hauptfigur wäre? (Beispiel: Wie würde ich als Zugführer gegen den Sturm ankämpfen?) Wie verhält sich John Maynard? Wie würde ich mich an seiner Stelle verhalten?
  • - Welche Gefühle und Gedanken machten sich in mir breit, wäre ich einer der geretteten Passagiere?

Fontane zieht für seine Balladen meist historische Katastrophen heran, die er jedoch recht frei bearbeitet. Recherchen zu den geschichtlichen Hintergründen bieten sich daher an, z. B. in der Enzyklopädie Wikipedia [5]:

Die Ballade beruht auf einer wahren Begebenheit, die sich in der Nacht vom 8. zum 9. August 1841 ereignete. Der Seitenraddampfer Erie (unterwegs nicht nach, sondern von Buffalo) geriet nach einer Verpuffung von falsch gelagertem Malerbedarf (Terpentin u. ä.) in Brand und hielt Kurs auf die acht Meilen entfernte Küste, ohne sie jedoch zu erreichen. Im Gegensatz zur Balladenschilderung wurden von den ca. 200 an Bord befindlichen Menschen, darunter viele schweizerische und deutsche Zwischendeckpassagiere, nur 29 gerettet. Auch sonst unterscheidet sich der wahre Verlauf in einigen Details von der Ballade. So hieß der diensthabende Rudergänger, der in der Tat bis zuletzt auf seinem Posten ausharrte, nicht John Maynard, sondern Luther Fuller. Dieser überlebte schwer verletzt, erholte sich jedoch seelisch nicht mehr. Er verfiel dem Alkohol und starb in einem Armenhaus.

REZITIEREN EINÜBEN

Weil die meisten Schüler der Sekundarstufe nicht oder zu wenig gut mit den gestalterischen Mitteln des Vorlesens vertraut sind, sollte eine lehrerzentrierte Erarbeitung erfolgen. Um einen ausdrucksstarken Vortrag zu erzielen, kann man zur Verdeutlichung ein Hörbeispiel einsetzen. Tempo, Lautstärke, einzelne Betonungen, Heben und  Senken der Stimme usw. werden im Text markiert. Mit der Markierung von Betonungen sollte man aber eher sparsam umgehen. Nicht jedes sinntragende Wort muss betont werden! Zu viele Markierungen verwirren nur. Eine wichtige Bedeutung kommt den Pausen zu. Nicht jeder Beistrich bedeutet auch eine Sprechpause. Um Pausen richtig zu setzen, sollte der Aufbau der Handlung beachtet werden:

  • a) Wo wird die Handlung unterbrochen, wo setzt sie neu ein? - (Größere Pause)
  • b) Wo muss ich über das Zeilenende hinauslesen, ohne zu atmen? - (Zeilensprung)
  • c) Wo setze ich kleinere Sinnpausen, sollte also innehalten, ohne zu atmen?
  • d) Wo gibt es Spannungspausen?

Wenn in der Unterrichtssituation die Zeit für diese drei oben angegebenen Schritte fehlt, sollte man lieber auf den einen oder anderen Text verzichten. Das Drei-Phasen-Modell gilt nicht nur für das Vorlesen im Deutschunterricht, natürlich kann und sollte es auch in den Realfächern seine Anwendung finden.

Zum Beispiel in Geschichte und Sozialkunde

Quellentexte aus dem Geschichtsbuch sind oftmals noch schwerer zu verstehen als die darstellenden Textpassagen, die sie in den historischen Zusammenhang bringen sollen. Vor dem Vorlesen sollten die Quellentexte also auf jeden Fall still gelesen werden. Danach könnten in Partnerarbeit unbekannte Begriffe, schwierige Satzkonstruktionen und schwer verständliche Argumentationsmus-ter untersucht und geklärt werden, sodass sich die Textzusammenhänge für die Lernenden leichter erschließen lassen.

 Im Geschichtsunterricht sollte ebenfalls an Fragestellungen für die Zuhörer gedacht werden. Selbstverständlich eignen sich dazu auch Fragen, die dem Text im Lehrbuch ohnehin zugeordnet sind. Nach dem Vorlesen kann der Quellentext mittels solcher Leitfragen mit advance organizern wie Zwischenüberschriften, Stichworten, Randbemerkungen gegliedert und weiterbearbeitet werden. Die anschließende Kommunikation trägt ebenso bei,  den Textinhalt besser zu verstehen und zu behalten.

Textquellen:

[1] Deutsche Balladen. Hg. von Hartmut Laufhütte. Reclam Verlag,  Stuttgart 2000 (RUB 8501)

[2] Klartext 7. Sprachbuch für Gymnasien von Rainer Frank, Thomas Kopfermann, Waltraud Mönnich, Otto Schober Westermann Schulbuchverlag, Braunschweig 1999, S. 162 - 163

[3] Deutschmagazin. Ideen und Materialien für die Unterrichtspraxis 5 - 13. Januar/ Februar 2009. Verlag Oldenbourg, S.9 - 11

[4] Deutschmagazin. Ideen und Materialien für die Unterrichtspraxis 5 - 13.  Mai /Juni 2009. Verlag Oldenbourg, S. 28 - 29

[5] http://de.wikipedia.org/wiki/John_Maynard

2010 - 01- 31, Maria Hanser



Quelle oder Autor/-in: Maria Hanser (RE)

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