Christoph Poschenrieder, Der Spiegelkasten

Buch-Cover

In einem guten Hirn kämpfen ständig das Erinnerungsvermögen und das Vorstellungsvermögen um die Vorherrschaft. Dieser Kampf ist auch das Hauptthema in Christoph Poschenrieders Roman ?Der Spiegelkasten.

Große Erlebnisse beginnen oft trivial, ein Ich-Erzähler baut sich am Computer eine persönliche Pizza zusammen, die ihm dann in Echtzeit zugestellt wird. Beim Verzehr einer solchen PC-Pizza schüttet er Wein aus, dieser rinnt in eine alte Fotosammlung des Großonkels, die dieser anlässlich des Stellungskrieges zwischen Deutschland und Frankreich im Ersten Weltkrieg angelegt hat.

Beim Durchblättern und Reinigen der alten Bilder setzt sich das Hirn des Erzählers ab in die Vergangenheit und umkreist den sogenannten Spiegelkasten, der auf einer Abbildung verschwommen zu sehen ist.. Diese Erfindung diente dazu, Amputierten den Phantomschmerz zu nehmen, indem diese sich das gespiegelte gesunde Gliedmaß als Vorbild für das amputierte vorstellten.

Die Figur des Großonkels Manneberg erlebt noch einmal den Einsatz an der Front, das Schlachten und Sterben ist schier unvorstellbar. Dabei gibt es immer wieder absurde Situationen, wenn etwa die Soldaten auf Kaninchen schießen statt auf den Feind, oder wenn eine Feldpost an eine imaginäre Geliebte zu Hause tatsächlich beantwortet an die Front zurückkommt. Manneberg wird an der Front verrückt, man nennt das damals großzügig "Seelenblind". Auch die psychiatrischen Gegenmittel sind bemerkenswert:

Wenn es doch offensichtlich unmöglich sei, die Bilder und Gedanken aus dem Kopf zu bannen, warum wolle er, Manneberg, nicht versuchen, sie erst ertragen zu lernen, sie später sogar willkommen zu heißen und ihnen so die zermalmende Wucht zu nehmen... (65)

Während der Erste Weltkrieg in diesem individuellen Ausschnitt Mannebergs noch einmal abläuft, erlebt sein Großneffe einen Krieg mit seiner Arbeitswelt. Völlig abgetaucht in rekonstruierte Schlachten und konstruierte Pizzen, entgleitet dem Ich-Erzähler sein Job, in dem er aktuelle Zeitschriftenartikel in Europa für seinen Auftraggeber Amerika auswerten soll. Mit den Mitteln der Gegenwart erlebt der Erzähler den Krieg des Großonkels noch einmal persönlich, es ist nämlich alles eine Frage der Vorstellung.

Im Roman "Der Spiegelkasten" verschwimmen historische Ereignisse mit der computeranimierten Gegenwart. Was ist Spiegelung, was ist Imagination, was ist letztlich eine unbemerkte Therapie? Während es am Schlachtfeld offensichtlich um das Aushalten des Todes geht, das verlässlich zu psychischen Störungen und Seelenblindheit führt, geht es im virtuellen Design der Gegenwart um das Aufspüren der eigenen Identität. Auch vor dem Bildschirm stellt sich die Frage, was ist eine Spiegelung, was ist Vorstellungskraft? Vielleicht ist der PC nichts anderes als ein moderner Spiegelkasten, der unsere Gesamtamputation vervollständigt.

Christoph Poschenrieder, Der Spiegelkasten. Roman
Zürich: Diogenes 2011, 223 Seiten, 22,60 €, ISBN 978-3-257-06788-0

 

Weiterführende Links:
Diogenes-Verlag: Christoph Poschenrieder, Der Spiegelkasten

 

Helmuth Schönauer, 31-08-2011

 

 

Bibliographie

AutorIn

Christoph Poschenrieder

Buchtitel

Der Spiegelkasten

Erscheinungsort

Zürich

Erscheinungsjahr

2011

Verlag

Diogenes

Seitenzahl

223

Preis in EUR

22,60

ISBN

978-3-257-06788-0

Kurzbiographie AutorIn

Christoph Poschenrieder, geb. 1964 bei Boston, lebt in München.

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