Walter Kappacher, Selina oder das andere Leben

Buch-CoverEs gibt diese Romane, die sind heruntergefahren wie Murmeltiere im Winterschlaf und gerade deshalb knistrig heiß und aufregend. Walter Kappacher, der Meister des erzählten Stillstands, schickt in seinem Selina-Roman einen Lehrer in die Auszeit, um das andere Leben zu entdecken.

Irgendwie ergibt es sich, dass ein Häuschen in der Toskana frei steht und der belesene Hausbesitzer Heinrich überlässt daher die Daseinsexklave dem Lehrer Stefan mit der Aufgabe, das Haus in purem Nichtstun zu bewohnen.

In der Folge nistet sich Stefan im neuen Leben ein, indem er zu rein gar nichts kommt. Wein ist nur schwer zu kriegen, alle machen die Fässer zu, als hätte er etwas Unanständiges verlangt, die Lektüre zieht sich immer zurück, kaum dass man ein Bändchen aus der Reclam-Serie in die Hand nimmt, und selbst der Versuch, einen verholzten Weg frei zu hacken um auf der gewonnenen Abkürzung in den Ort zu gelangen, stellt sich als Verlängerung der Wegzeit heraus.

Der Kontakt zu Heinrich bleibt vage, wiewohl sich Stefan immer bemüht, genau das zu lesen, worauf der Hausherr gerade angespielt hat. Hier zeigt sich der Bildungsroman als permanentes Verschwinden, kaum schaust du auf die Bildung hin, ist sie schon weg.

Ein Buch von der Peripherie des Lesens ist auch Selina, eine schmale Schrift des sonst so üppigen Jean Paul. In Selina geht es um die Unsterblichkeit der Seele, die Schrift ist Fragment geblieben und bleibt auch für Stefan ein Lesefragment. Aber irgendwie muss sich die Schrift seltsam vermehrt haben, denn Heinrichs Nichte heißt Selina und schwirrt als ferner Geist in Deutschland herum, zu weit weg, als dass man sich verlieben oder sonst ein Gefühl auspacken könnte. Und wenn sie anruft, bringt sie höchstens eine Todesnachricht: Heinrich ist gestorben.

Walter Kappacher erzählt verrückt unauffällig, langsam, genau, die Autos sind wie immer bei ihm Kosetiere, die liebevoll Fiat oder Simca genannt werden. In einer Aura der Spätromantik, quasi unter Schäfern und Hölderlin liefern sich Autofahrer aberwitzige Rennen auf engen Landstraßen, kommt es an Engstellen zu gefährlichen Fastkarambolagen. Der Held wird im Straßenverkehr aufgerieben, wenn er von Salzburg in die Toskana fährt. Und letztlich entsteht der Sinn des Lebens durch Verrichtungen für den Alltag. Vor lauter einrichten, entlegen sein und wohnen vergehen die Tage wie im Nu, vom Ausjahr sind schon drei Monate um und nichts ist passiert. Das ist wahrlich das andere, das echte Leben!

Walter Kappacher: Selina oder das andere Leben. Roman.
Wien: Deuticke 2005. 254 Seiten. EUR 20,50. ISBN 3-552-06018-9.

 

Helmuth Schönauer, 17-10-2005

Bibliographie

AutorIn

Walter Kappacher

Buchtitel

Selina oder das andere Leben

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2005

Verlag

Deuticke

Seitenzahl

254

Preis in EUR

EUR 20,50

ISBN

3-552-06018-9

Kurzbiographie AutorIn

Walter Kappacher, geb. 1938 in Salzburg, lebt in Salzburg.

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