Luis Stefan Stecher, Annähernd fern

stecher_fern.jpgDie ferne Geliebte, ferngesprochen, Fernziel, im fernen Chile, das nahe Ende ? diese Begriffskonstellationen ziehen quasi automatisch einen Aphorismus nach sich. Ein guter Aphorismus nämlich deutet auf etwas hin, ohne es direkt auszusprechen. So gesehen sind Nähe und Ferne, Annäherung und Entfernung die besten Anlasswörter für einen Aphorismus.

Was scheinbar lapidar klingt, ist beim zweiten Hinlesen gar nicht so blöd, scheinbar fixe Erkenntnisse flüchten in schlichte Behauptungen und so rutschen allmählich ganze philosophische Hanglagen ab.

Die nähere Zukunft ist möglicherweise erlebbar, die fernere sicher nicht. (96)
Entfernungen hängen vom Standpunkt ab. (29)
Das Fernweh in der Ferne ist das Heimweh. (26)

Solchermaßen verunsichert und in der Unsicherheit bestätigt, beginnt allmählich das ganze Satzgefüge zwischen Nah und Ferne zu flirren, der Leser weiß letztlich nicht einmal mehr, welche Lesebrille er aufsetzen soll, so rasch verändert sich das Gelesene.

Unterstützt, beschleunigt und portioniert wird dieser aphoristische Vorgang der Totalerkenntnis durch Skizzen, Bilder und Zeichnungen des Autors. Da sind etwa die Augen eines Würfels wörtlich genommen und glotzen dich als Sechsereignis an. Die wichtigsten Berge der Welt haben sich auf Figernagelgröße verschrumpft und blinken als weichgezeichnete Screen-Wall aus dem Buch, ein Segelboot liegt so gleichmäßig auf drei Wellenstrichen, dass man nicht sagen kann, fährt es weg oder kommt es an.

Luis Stefan Stechers minimalistische Annäherung an große Wörter und Bilder hat etwas aufregend Beruhigendes an sich. Vage Begriffe, wie sie oft als Füllwörter in Beobachtungen und Erzählungen geklemmt sind, erhalten plötzlich Sprengkraft und reißen ganze Textblöcke entzwei. Und wenn man künftig nach einer Auskunft gefragt wird, wie weit es etwa zu einem bestimmten Ziel ist, wird man sich als Leser schmunzelnd auf Luis Stefan Stechers Erkenntnisse zurückziehen und mit den Achseln zucken. Denn wer weiß schon, wie weit und nah Achseln zucken müssen, dass daraus eine Botschaft wird?

Luis Stefan Stecher: Annähernd fern. Variationen über Nähe und Ferne. Aphorismen und Zeichnungen.
Wien, Bozen: folio 2005. 120 Seiten. EUR 19,50. ISBN 3-85256-313-5.

 

Helmuth Schönauer, 22-11-2005

Bibliographie

AutorIn

Luis Stefan Stecher

Buchtitel

Annähernd fern

Erscheinungsort

Bozen

Erscheinungsjahr

2005

Verlag

folio

Seitenzahl

120

Preis in EUR

EUR 19,50

ISBN

3-85256-313-5

Kurzbiographie AutorIn

Luis Stefan Stecher, geb. 1937 in Laas, lebt in Marling bei Meran.

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