peter paul wipplinger, einschnitte„Mein Gedicht ist mein Messer“ schreibt Hans Magnus Enzensberger 1961 und lässt erahnen, was ein Gedicht letztlich bewirken kann: Nämlich eine Epoche, ein subjektives Zeitgefühl und das historische Bewusstsein zu zerschneiden in vorher und nachher.

Für Peter Paul Wiplinger ist dieser Messer-Satz ein intensiver Einschnitt, allmählich begreift er die Zäsur, die die Nazis über sein Leben, seine Angehörigen, das Dorf und das Mühlviertel überhaupt gelegt haben.

michael sommer, alle wege führen nach rom„Die folgenden Kapitel erzählen im Zeitraffer die Geschichte vom Zusammenbruch der bronzezeitlichen Großreiche um 1200 v. Chr. […] bis zum Ende des römischen Imperiums im Westen kurz vor 500 n. Chr. Sie wollen aber mehr sein als ein Durchritt durch griechische und römische Geschichte im Schweinsgalopp. Dieser Essay hat sein Ziel erreicht, wenn er das Bewusstsein schärft für die großen Bögen des Dramas, das sich um das antike Mittelmeerbecken entrollte, und wenn er zugleich in Erinnerung ruft, auf wie vielfältige Weise unsere Gegenwart mit der fernen Vergangenheit dieses einzigartigen Raumes verflochten ist.“ (S. 36)

In acht Kapiteln erleben die Leserinnen und Leser, dass die Beschäftigung mit der Antike nicht nur spannend und unterhaltsam sein kann, sondern auch, dass sie auch für die Betrachtung der Probleme der Gegenwart immer noch viel zu bieten hat.

juri andruchowytsch, radio nachtDurch den Krieg werden Vorkriegsromane zu Kriegsromanen. Autor und Publikum können das Rad der Literatur nicht zurückdrehen, beiden sind die Augen inzwischen anders aufgegangen als geplant. Und auch der Roman ist ein anderer geworden.

Juri Andruchowytsch hat seinen Roman Radio Nacht 2021 geschrieben mitten in unserer Vorkriegszeit, die in der Ukraine schon als Vollkrieg empfunden worden ist. Sein Thema ist folglich: Wie kann für unterschiedliche Gesellschaften etwas erzählt werden, was alle zumindest für eine Romanlänge zusammenführt?

stephan alfare, neuneinhalb fingerEin aufregender Roman stützt sich durchaus auf einen großen Gestus, mit dem er in der Hand gehalten wird. Manche Romane sind geradezu für das Lesen „on the road“ geschaffen, man denke nur an die fetten Narko-Thriller aus weichem Papier, die von einer Hand mühselig gehalten werden, während die andere versucht, mit fünf Fingern einen Joint zu drehen.

Stephan Alfare hat seinen Roman „Neuneinhalb Finger“ in den Umschlag-Gestus eines Thrillers gesteckt, der fette, biegsame Buchblock krümmt sich unter dem erhaben gedruckten Cover eines Hinrichtungsstuhls, auf dem ein Zigarrencutter liegt. Dieses Bild führt stracks zur Schlüsselszene des Romans: Dem Schriftsteller und Ich-Erzähler Leon Schillinger wird ein Stück Zeigefinger abgeschnitten, denn er ist in den Augen seines Gegenübers „Schriftsteller und geschwätzig“. (395)

oskar aichinger, ich stieg in den zug und setzte mich ans fensterDie Eisenbahn ist nur so nebenher ein Transportmittel, eigentlich ist sie seit fast 200 Jahren ein Stück Kultur, staatstragend wie die Oper, unvergesslich wie die Nationalbibliothek, aufregend wie die Bundeshymne.

Oskar Aichinger weiß um die Magie der Eisenbahn, weshalb er ein erzählendes Ich, das ungeschminkt zu ihm hält, in einen Zug steigen lässt und am Fenster platziert. Ausgangspunkte der ÖBB-Reisen sind zum einen die Kindheit in Oberösterreich, zum anderen Wien als Drehscheibe, von der aus sich die Lokomotiven über die Schienenstränge der Republik hermachen.

christina grataloup, die geschichte der welt - ein atlas„Die Grundidee dieses – auch international erfolgreichen Weltatlas ist es nicht, so viele historische Details wie möglich in eine Karte zu packen, sondern die großen Linien der Globalgeschichte von den Anfängen der Menschheit bis heute mit Hilfe von Karten zu veranschaulichen.“ (Umschlag)

Geschichtskarten stehen vor der großen Herausforderung, einzelne Regionen zu bestimmten Zeiträume präzise einzufangen und detailliert festzuhalten. Dabei erlaubt eine Karte kein vielleicht oder ungefähr, sondern nur die Genauigkeit einer Linie und festen Form. Der Zwang historische Annahmen, Entfernungen, Maßstäbe u.a. eindeutig festzuhalten, setzt ein besonders vielfältiges Expertenwissen und den kreativen Mut für Entscheidungen voraus.

doron_rabinovici, die einstellungIn sogenannten liturgischen Romanen geht es darum, einen bewährten Plot aufs Neue zu erzählen, um die Anhänger dieser Plot-Konstellation darin zu bestärken, dass sie zu den Guten gehören und richtig liegen.

Doron Rabinovici erzählt eigentlich den gesamten Roman durch den bloßen Titel – „Die Einstellung“. In der Doppeldeutigkeit des Begriffes wird klar, dass für einen Fotografen nicht nur die Einstellung an der Kamera entscheidend ist, sondern auch seine persönliche, die mit einer politischen Einstellung einhergehen muss.

friedrich hahn, liebe störtDie besten Erzähler sind jene, die am Sterbebett liegen. Sie brauchen niemanden mehr zu beeindrucken und nichts mehr zu schönen. Sie können das Leben abrechnen, auch wenn sie es oft falsch boniert haben.

Friedrich Hahn erzählt aus einer verrückt-frechen Position heraus. Sein Ich-Erzähler ist gerade gestorben und räsoniert „zum Ausgeistern“ über sein Leben und wie das so ist, bis der Leichnam endgültig entsorgt ist. Sein letzter Satz heißt „Liebe stört“ und ist offensichtlich wohl vorbereitet, wie alle diese berühmten Sätze von „mehr Licht“ bis hin zu „mehr nicht“.

christian futscher, statt einer mütze trug ich eine wolkeJeder Roman lebt davon, dass er mit den Wörtern mehrdeutig umgeht. Schließlich geht es bei jedem Begriff um eine vage Gedankenbewegung. Wenn beispielsweise etwas am Kopf sein soll, ist es vorerst egal, ob es sich um eine Mütze handelt oder um eine Wolke.

Christian Futscher entwickelt aus diesem Mehrdeutigkeitskult heraus eine eigene Erzählform. Der Ich-Erzähler tritt in die Plot-Stapfens eines Schelms und spuckt eine Pointe nach der anderen aus. Wie bei einem Miststreuer werden die Dungteile gleichmäßig verteilt und spornen die Phantasie zu größtem Wachstum an.

antonio fian, wurstfragen„Griassinnen!“ - Im Wiener Kaffeehaus wird schon seit Jahrhunderten gegendert, wenn eine Bestellung aufgenommen und die sitzende Hofratschaft begrüßt werden muss.

Antonio Fians „Wurstfragen“ handeln von diesen kleinen Verunreinigungen, die im Gebrauch der Alltagssprache auftreten, wenn man nicht genau hinhört oder eine Fügung ohne zu denken verwendet. Die Wurstfragen sind vor allem solche, die Wurst im Sinne von egal sind, also letztlich niemand interessieren. Andererseits tastet sich an diesem Haupt-Hauptwort „Wurst“ die gesamte Kultur entlang, gibt es doch von der Polnischen bis zur Wiener allerhand Wurstformen, die erst dann ihre Reife entwickeln, wenn niemand weiß, was drin ist. Und von jener Wurst, die allenthalben hinten herauskommt, braucht man als Kulturphilosoph gar nicht zu reden, sie liegt nämlich vom Hund gemacht auf diversen Gehsteigen oder plagt die Kundschaft auf dem Weg zur Apotheke.