felix philipp ingold, übersetzenLiteratur ist ein Material, das je nach Konsistenz gewisser Formen bedarf, um es zu transportieren oder archivieren. Neben den klassischen Erscheinungsformen wie Roman, Gedicht oder Essay gibt es noch etwas, was sich in keiner Form fassen lässt. Augenzwinkernd könnte man vom „Nichteingezwängten“ reden, also einem Text, der für alle Formangebote zu groß oder zu klein ist.

Felix Philipp Ingolds Literatur ist formvollendetes Nichteingezwängt-Sein. In voluminösen Bänden erscheint sein Lebenswerk quasi neu zusammengesetzt für die Nachwelt. Das heißt, die bislang veröffentlichten Schriften werden oft ihres Genres entkleidet und erscheinen als Stoffsammlung mit eingefügten Essays, Notizen, Repliken und Umschreibungen des früheren Zustandes als Erstveröffentlichung.

lydia davis, es ist, wie's istEine einzige gelungene Shortstory ist schon aufregend wie das Gesamtwerk einer Künstlerin, zeigt sie doch auf engstem Raum jeweils eine zentrale Thematik, eine solitäre Erzähltechnik und eine konnotierte Lebenserfahrung. Lydia Davis erfüllt diese Kriterien in beinahe jeder ihrer Geschichten, und manchmal setzt sie dazu neue Maßstäbe, wie in der ersten Geschichte des Bandes „Es ist, wie’s ist“.

Unter dem mageren, weil vielsagenden Titel „Story“ setzt die Sammlung mit einem prägnanten Ereignis ein, das aus heiterem Himmel zu Unruhe und psychischer Entgleisung führt. Eine Erzählerin hat ein recht ungeklärtes Verhältnis zu ihrem Freund, manchmal springt sie eine Panikattacke an, wenn sie nicht genau weiß, was er gerade macht. Jetzt am Abend hat er nicht angerufen, er wird vielleicht mit einer Freundin zusammen sein. Er reagiert nicht auf Anrufe, die Erzählerin beginnt ihre Unruhe abzuarbeiten und aufzuschreiben. „Ich wechsele in die dritte Person und ins Präteritum!“ (5)

hans-joachim fischer, frühgriechische philosophie„Die Reise ins anfängliche philosophische Denken ist deshalb so faszinierend, weil sie uns im Prozess der Aneignung auf die eigenen Anfänge zurückführt. Nirgendwo sonst – scheint mir – sind wir so sehr auf die Gründe zurückgeworfen, auf die alles Denken, auch unser eigenes Denken aufbaut, wie in dieser Rückbesinnung auf die Anfänge.“ (S. 9)

Die Auseinandersetzung mit den Anfängen des philosophischen Denkens bietet die Möglichkeit, auch die Grundlagen des eigenen Denkens zu entdecken, auf denen alles Denken basiert, das sich in bisher unbekannten Gefilden bewegt und keine sicheren Hinweise und Haltepunkte vorfindet.

thomas ballhausen - sagen reloadedSagen sind das, was die Leute über die Jahrhunderte sagen. Diese witzige Definition erfreut zwar nicht das Fachpublikum, erklärt aber, dass Sagen nie fertig sind und in jeder Generation neu erzählt werden müssen. Und wenn es einmal keine Sagen mehr geben sollte, werden auch die Leute nichts mehr sagen, weil sie ausgestorben sind.

An der Kante zu einer neuen Epoche empfiehlt es sich, den alten Erzählstoff zu sichten und zu „reloaden“. Thomas Ballhausen und Sophie Reyer initiieren dieses Projekt am Vorabend der Pandemie, als wollten sie für einen Überlebenskoffer sichten, was man für die neue Zeit einpacken und neu erzählen soll.

helmuth schönauer, antriebsloser frachter vor norwegen„In der Erinnerung ist etwas fixiert / indem eine gültige Fassung abgespeichert ist im Hirn / du denkst nicht mehr daran / dass es eine Alternative gegeben hätte damals / sondern alles ist unverrückbar gültig / wie ein Flugschreiber einer abgestürzten Maschine / der Flug mag zwar ungünstig ausgegangen sein / die Daten freilich sind fix“ (S. 16)

Erinnerungen werden trüb und verschwimmen im Laufe der Zeit. Nur die festgehaltenen Wahrnehmungen fixieren sich und werden zur vergangenen Realität. Lyrisch poetische Erinnerungen und Betrachtungen fixierter Ereignisse befreien den eingefrorenen Blick und eröffnen einen Neuen.

bernhard strobel, nach den gespensternWie bei Huhn und Ei ist auch die Urheberschaft der Gespenster diskutierbar. Suchen nun Gespenster die verschreckte Seele auf und setzen sich im Schreckzentrum nieder, oder treten zuerst Hirngespinste auf, die dann als abgeheilte Gespenster in die verschreckte Umwelt entlassen werden?

Bernhard Strobel geht in seinen dreizehn Erzählungen diesem Wechselspiel nach. Dabei wird man als Leser miteinbezogen in dieses Wirrwarr aus Gewissheiten, seelischen Brüchen, Familientragödien oder einfach dem Auseinanderbrechen jeglicher Selbstsicherheit.

andrej platonow, der makedonische offizierDie Erde entwickelt sich entweder zu einem reinen Kristall, der Wasser spendet, oder der Erdball verliert sich in einer giftigen Blase.

Andrej Platonows Kernsatz über die Entwicklung der Sowjetunion wird in den 1930er Jahren unter Stalin nicht gerade mit Wonne aufgenommen. Der Autor wird sofort geächtet, verliert seine Wohnung und Zulassung als Schriftsteller. In seinem Brotberuf als Bewässerungsingenieur hat er täglich mit Verhaftung zu rechnen. Und als er selbst schon fertiggemacht ist, geht die Verfolgung auf seinen Sohn über, der daran stirbt.

lynn margulis, der symbotische planet„Dieses Buch handelt vom Leben auf unserem Planeten, seiner Evolution und davon, wie sich unsere Ansichten dazu gewandelt haben. Wenn ich ihm einen Untertitel geben sollte, dann wäre es die Forschung, und zwar insbesondere die naturwissenschaftliche Forschung, mit ihren zahlreichen Wendemanövern und festen Regeln, die sie voranbringen oder hemmen können.“ (S. 9)

In „Der symbiotische Planet“ vermittelt die amerikanische Biologin Lynn Margulis einem breiten Publikum ihre neue Sicht der Evolution des Lebens, die sie als Wechselwirkung und Symbiose verschiedener Organismen versteht. Das Zusammenspiel der unterschiedlichsten Organismen für die permanente Weiterentwicklung des Lebens auf der Erde führt sie in ihrer „seriellen Endosymbiontheorie“ (SET) aus.

gerhard rühm, epigramme und EpitapheÄhnlich den Beatles gilt auch der Wiener Gruppe seit beinahe siebzig Jahren die kollektive Aufmerksamkeit der Fans, dabei kommen die einzelnen Mitglieder auf den ersten Blick etwas zu kurz.

Gerhard Rühm ist das letzte noch lebende Fünftel der Wiener Gruppe, die vorerst als germanistisches Kunstprodukt gehandelt wird, haben doch die Mitglieder Friedrich Achleitner, H. C. Artmann, Konrad Bayer, Oswald Wiener und eben der Autor der Epigramme und Epitaphe nur losen Kontakt. Spötter sagen, die Germanisten hätten die fünf erst miteinander bekannt gemacht, damit sie das auf die Bühne brächten, was die Dichter-Macher von ihnen verlangten.

peter simon altmann, suite poétologiqueEssays sind Texte, die ähnlich Brücken unter großer Spannung stehen müssen, um die Traglast unauffällig zu bewältigen. Die beiden Brückenköpfe sind in diesem Vergleich das schreibende Subjekt und der scheinbar objektive Tatbestand eines Themas. Je nach Verfassung des Subjekts und Notwendigkeit des Objekts kann dabei die Sichtweise regellos zwischen beiden Polen verschoben werden, der Essay lebt von dieser Regellosigkeit.

Peter Simon Altmann schiebt den Essay-Regler in seiner „Suite poétologique“ vollends in die Richtung des schreibenden Subjekts, denn das ist ja das Thema seiner zwölf Überlegungen. In der losen Abfolge einer Suite greifen die Gedanken über die allmähliche Verfestigung eines lesenden Menschen hin zu einem Schriftsteller zuerst ineinander über, ehe sie sich unterhaken und ein deutliches Bild ergeben.