jan gerber, die untiefen des postkolonialismus„Auch wenn solche antisemitischen und plumpen Angriffe auf die Singularität des Holocaust mittlerweile nicht mehr ganz so offen vorgetragen werden, hat in den vergangenen Jahren mit dem Siegeszug der Postkolonialen Studien eine weiche, aber nicht weniger problematische Form der Relativierung an den Universitäten und in den Feuilletons Einzug erhalten. Vertreter des Postkolonialismus sehen zwischen den Gräueltaten des deutschen bzw. europäischen Kolonialismus höchstens noch graduelle Unterschiede zum Holocaust und zeichnen eine fast direkte Linie von kolonialen Verbrechen nach Auschwitz.“ (S. 14)

Wurde in der Vergangenheit die Einmaligkeit des Holocaust vor allem von rechten politischen Gruppen relativiert so kommen in der Gegenwart immer häufiger Standpunkte zur Sprache, die den Holocaust als Folge des europäischen Kolonialismus betrachten, der sich nur im Detail von den kolonialen Gräueltaten unterscheidet. Zahlreiche renommierte Autorinnen und Autoren setzen sich in ihren Beiträgen kritisch mit den Ansätzen der Postkolonialen Studien zum Holocaust auseinander.

volkmar mühleis, tagebuch eines windreisendenDer animierende Freund Wind gleicht im Idealfall diverse Druckunterschiede aus, die uns umgeben. An Windtagen genügt es, den Körper still zu halten und die Sinnesorgane aufzumachen, um so aus dem Stand heraus eine Reise zu absolvieren. Der Windreisende ist ständig unterwegs, auch wenn er sich scheinbar nicht bewegt.

Volkmar Mühleis versucht mit dem „Tagebuch eines Windreisenden“ etwas schier Unmögliches, nämlich das Zufällige in den Plan einer Chronik zu bringen und das Mehrdimensionale an die Kette eines stringenten Ablaufs zu legen. Beides geschieht durch das Genre Tagebuch. In sieben Gedankenschritten wird nicht weniger versucht als eine Erdumkreisung zu beschreiben.

cornelia hermanns, chinas strategen„Die chinesischen Kommunisten haben die Formel geprägt: Der Sozialismus chinesischer Prägung. Auf den folgenden Seiten soll der Sozialismus chinesischer Prägung für Nichtchinesen verständlich werden, China und sein origineller Kommunismus für Anfänger sozusagen, für Leserinnen und Leser, die nicht sinologisch vorgebildet sein müssen.“ (S. 9)

War die Volksrepublik China mit seinen 1,4 Milliarden Einwohner 1949 bei ihrer Gründung noch eines der ärmsten Länder der Welt, hat sich das Land seit den 1980-er Jahren sukzessive an seiner Industrialisierung und Modernisierung gearbeitet. Heute setzt China an die USA als führende Wirtschaftsmacht abzulösen. Ein guter Grund die Herrschaftsstrukturen und führenden Politiker des Landes seit seiner Gründung näher zu beleuchten.

leopold federmair, parasitenParasiten sind Spezialisten, die im Kampf um Ressourcen eine Abkürzung nehmen. Oft wird dabei die Fresslinie Wirt-Zwischenwirt-Verbraucher eingehalten. Der Begriff Parasiten lässt sich aber in so gut wie allen Bedeutungsfeldern ausstreuen und anwenden. Wegen seiner Anwendung durch die Nazis im gesellschaftlichen Kontext hat er seine Unschuld verloren und gilt als Achtung!-Wort, bei dessen Anwendung es ,aufpassen‘ heißt.

Leopold Federmair setzt die Parasiten in vier Essais aus. Die Schreibweise Essai ist eine Würdigung an Montaigne, der als Schöpfer eines Genres gilt, bei dem objektive Wissensinseln mit subjektiven Reiserouten angesteuert und neu verbunden werden.

manfred mixner, anwesenWahrscheinlich kann Glück nur auftreten, wenn es zuerst als literarisches Bild formuliert und später als echtes Leben ausgestaltet wird.

Manfred Mixner ist hoffentlich dieses Glück zuteilgeworden. Jedenfalls formuliert er das Bild vom Glück in seiner Erzählung „Anwesen“ zuerst als Waldnotiz, um es anschließend mit Notizen aus dem Leben zu untermauern und befeuern, ehe er das alles noch einmal in einem ernüchternden Nachwort auf null einschleift.

stefan schmitzer, liste der künstliche objekte auf dem mondDie sogenannte Raumfahrt ist wahrscheinlich mindestens so sehr ein kulturelles Projekt, wie sie ein physikalisches ist.

Stefan Schmitzer geht in seinem „Langgedicht“ von der Größe einer Umlaufbahn von der Überlegung aus, dass jene Objekte, die ständig ins Weltall geschossen werden, durchaus auch Träger von Botschaften sind. Und was hindert uns anzunehmen, dass es sich dabei um Poesie handelt?

Die Liste der künstlichen Objekte auf dem Mond ist chronologisch komponiert, es beginnt mit „Lunik 2“ im Jahre 1959 und endet mit „Chang’e 5“ im Jahr 2020. Schon die Bezeichnung der Objekte weist auf die jeweiligen Abschuss-Nationen hin, die Sowjetunion schickte einst die Luniks gen Himmel, das chinesische Reich nennt seinen Triebkopf am Mond Chang’e, was so viel wie Göttin des Mondes heißt. Dazwischen liegt viel lunare Poesie aus den USA, die nach dieser Lesart sogar Astro-Poeten auf den Mond geschickt haben.

ulrike kotzina, jenseits des abgrundsTotalitäre Systeme vereinnahmen die Literatur seit jeher durch Sanktionen, Marktbereinigungen und Ehrungen. Am Beispiel der DDR-Literatur lassen sich diese Maßnahmen aus heutiger Sicht nüchtern beschreiben. Es gibt freilich auch sublimere Formen des Totalitarismus, etwa wenn in einem Land nur mehr Bergbau, Digitalisierung oder Tourismus das Sagen haben. Diesen monumentalen Wirtschaftsformen ist eigen, dass sie in Sprache, Promotion und Leitbildern die Literatur kalt übernehmen und deren Bücher und Helden zu Werkzeugen des Regimes machen.

In Tirol ist beispielsweise das öffentliche Leben vollends dem Tourismus unterworfen, so dass es kein Wunder ist, wenn auch die Literatur mittlerweile mehr oder weniger freiwillig zu einer Tourismuseinrichtung geworden ist.

silvia ferrara, die große erfindung„Dieses Buch handelt weder von der griechischen Antike noch vom Alphabet, und es auch kein historischer Essay, sondern gewissermaßen eine Erzählung, die von einer Erfindung handelt: von der größten der Welt. Gewissermaßen, weil sie zwar einen Anfang hat und von einer abenteuerlichen Reise um die Welt handelt, ihr Ende aber erst noch geschrieben werden muss.“ (S. 9)

Silvia Ferrara betrachtet die Schrift als Manifestation des menschlichen Bedürfnisses zu kommunizieren, unsere Existenz „auf einem fest Grund zu verankern“ und unsere Bewusstsein die Zeiten überdauern zu lassen. Als Helden steht dabei der Menschen selbst im Mittelpunkt, mit seiner Fähigkeit mit dem Leben zu interagieren und zu kommunizieren. In der Schrift tritt uns eine ganze Welt entgegen, die es zu entdecken gilt und durch die wir die Erscheinungen der Welt filtern.

ewald baringer, der zaunprinzPrinz kann ein hartes Schicksal sein. Ein besonders „prinziges“ Schicksal hat in der Gegenwart der englische Thronfolger ausgefasst, der mit großen Ohren gegen sein Leben in der Warteschleife ankämpft.

Ewald Baringer stellt in seinem Roman ein triviales Prinzen-Schicksal aus unseren Breitengraden vor. Und wer könnte besser für diese undankbare Aufgabe geeignet sein als ein Germanist, der ein Leben lang mit nichts fertig wird? Natürlich sind es auch beim Germanisten widrige Umstände, die ihn an seiner undefinierten Aufgabe scheitern lassen, aber als halbgebildeter Mensch weiß er, dass der Zaunkönig ein kluges Tier ist, das in der Fabel schon mal zu einem Zaunprinzen mutieren kann, indem er sich die Welt schönredet und auf große Missionen pfeift.

irene wondratsch, fata morganaEin recht seltenes Schreibziel liegt darin, von vorneherein gescheiterte Literatur zu verfassen und die Geschichten in Sackgassen zu jagen, worin sie der Leser aufwändig aufspüren soll.

In vier Erzählversuchen baut Irene Wondratsch an einer fiktionalen Blase herum, die aus der Entfernung als wabernder Stoff einer Fata Morgana durchs Buch schimmert. Die unklaren Verhältnisse können auf die schwachen Augen der Lesenden zurückzuführen sein, es kann sich aber auch um Textkompositionen handeln, die von vorneherein keine Trennung zwischen klaren Linien, Personen und ihren Sätzen machen. „Traum und Fehlen jeglicher Nachricht“ (77) wird jener Zustand genannt, in dem die Helden vor den Augen der Schreibenden zusammenbrechen.